■ Ignoranz und Selbstgefälligkeit beim öffentlichen Dienst
: Provozierender Skandal

Noch niemals war ein Bündnis für Arbeit auch im öffentlichen Dienst so dringlich, und in keiner anderen Tarifauseinandersetzung haben sich die Tarifpartner so lautlos aus dieser Verantwortlichkeit schleichen können. Einen öffentlichen Sturm auf ihre Tarifwagenburg müßten sie ernten.

ÖTV und DAG wollen 4,5 Prozent mehr Lohn, eine nicht bezifferte soziale Komponente und die volle Angleichung der Ost- an die Westeinkommen. Die öffentlichen Arbeitgeber bezeichnen die Forderung als „abseits jeglicher Realität“. Ihr Verhandlungsleiter, Innenminister Kanther, will neben der offenkundig anvisierten Nullrunde über längere Arbeitszeiten und andere „Kostenfaktoren“ verhandeln. Eine Prognose des Tarifrituals sei erlaubt: 1,3 bis 1,6 Prozent mehr Lohn. Das war's.

Und genau das ist der provozierende Skandal. Bei Chemie, Textil und Metall gibt es ein Bemühen um ein Bündnis für Arbeit – im öffentlichen Dienst nur Ignoranz und Selbstgefälligkeit. Bei fast neun Millionen Beschäftigten im öffentichen Dienst, bei jährlich 700 Milliarden Mark Personalkosten reden die an den Tischen über ein bis vier Prozent mehr Lohn statt über Arbeitszeitverkürzung, Gehaltsdifferenzierung und wichtige öffentliche Dienstleistungen. Die ÖTV glänzt durch Nichtbefassung dieser Probleme.

Zentrale Aufgabe wäre, eine solidarische Arbeitsumverteilung mit innovativen Arbeitsplätzen und öffentlichen Dienstleistungen zu verbinden. Mehrheitsfähig wäre in der Bevölkerung und im öffentlichen Dienst eine differenzierte Strategie: Alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, des halböffentlichen Dienstes, der Kirchen und Wohlfahrtsverbände nehmen Einkommenseinbußen in Kauf. Die oberen Gehaltsgruppen müssen auf zehn Prozent Gehalt verzichten und zehn Prozent weniger arbeiten. Die mittleren Gehaltsgruppen müssen auf fünf Prozent verzichten und fünf Prozent weniger arbeiten. Die unteren Gehaltsgruppen erhalten den Inflationsausgleich. Allein im engeren Bereich des öffentlichen Dienstes können so 17 bis 20 Milliarden Mark eingespart und umverteilt werden. Nähme man die anderen Bereiche hinzu, dürfte die Summe bei 25 Milliarden Mark liegen. Davon wären mit leichter Hand 200.000 bis 500.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Das sollte einen Streit darüber auslösen, wo der größte Bedarf an Dienstleistungen besteht. Solidarische Arbeitsumverteilung und Lebensgewinn mit guten öffentlichen Dienstleistungen – das wäre eine spannende Perspektive. Peter Grottian

Teilzeit-Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin