Abrißbirne gegen den Sozialstaat

■ Heftige Kritik der Bundestagsopposition an den Sparplänen der Bonner Koalition: „Gnadenlose Einseitigkeit“

Bonn (taz) – Für FDP-Chef Wolfgang Gerhardt ist es der „wichtigste Beschluß der Koalition in dieser Legislaturperiode“, für die Opposition der erste Schritt in eine andere Republik, in der sozialer Ausgleich nichts mehr gilt: Mit scharfen Worten haben Sozialdemokraten, Grüne und PDS gestern im Bundestag das von Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Regierungserklärung vorgestellte Sparpaket als ebenso unsozial wie ungeeignet zur Zukunftssicherung attackiert. Auch die Gewerkschaften kündigten Widerstand gegen das Koalitionsvorhaben an. IG-Metall-Chef Klaus Zwickel nannte den Sparplan ein „Komplott gegen Arbeit und soziale Gerechtigkeit“.

Im Bundestag wandte sich Joschka Fischer gegen die „gnadenlose Einseitigkeit, bei der die Lasten nach unten weitergereicht werden“. Der grüne Fraktionschef sprach von einer „neuen Qualität von Sozialabbau“, die sich gegen den Sozialstaatsgedanken und damit auch gegen die „Zukunft der Demokratie als solche“ richten könne. Die Koalition habe die „Abrißbirne“ für die Zerschlagung des Sozialstaates jetzt ausgepackt, die Reichen im Land würden wohl ein „Erntedankfest“ feiern. SPD-Fraktionschef Rudolf Scharping nannte es eine „Obszönität“, daß die Erhöhung des Kindergeldes verschoben und gleichzeitig die Erbschaftssteuer abgeschafft werden solle.

Umstritten sind zentrale Punkte des Sparpakets, mit dem die Staatsfinanzen (momentan eingestandener Fehlbetrag in Bund und Ländern: 50 Milliarden) und Sozialkassen (Sparziel: 20 Milliarden Mark) saniert werden sollen: Die Erhöhung des Kindergeldes wird um ein Jahr verschoben, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall um 20 Prozent gekürzt. Der Kündigungsschutz greift künftig nur noch in Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten.

Der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine warf Kohl vor, er habe bewußt die Wähler getäuscht, indem er mit der Bekanntgabe der Einschnitte bis nach den Landtagswahlen gewartet habe. Kohl hatte zuvor eingestanden, daß man in diesem Jahr nur noch ein Wirtschaftswachstum von 0,75 Prozent erwarten könne. Er gab sich Mühe, das Sparpaket als unspektakulären Bestandteil seiner Regierungspolitik hinzustellen. „Es geht dabei überhaupt nicht um den Abbau des Sozialstaats“, versicherte er.

Scharping warf der Regierung vor, sie habe die „enorme Chance“ schon verspielt, als sie die Angebote von Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und Opposition zur Zusammenarbeit zurückgewiesen habe. „Damit haben Sie in die Hand gespuckt, die man Ihnen ausgestreckt hat“, sagte Lafontaine.

Kern des gestern im Bundestag vorgestellten SPD-Alternativkonzepts ist eine Reform des Steuerrechts mit einer Senkung des Eingangssteuersatzes für niedrige Einkommen. Als Ersatz für den Solidarzuschlag wollen die Sozialdemokraten eine einprozentige Abgabe auf große Vermögen, mit der eine Belebung des Arbeitsmarktes vorgesehen ist. Die Sozialversicherungen sollen von versicherungsfremden Leistungen entlastet werden. Außerdem will die SPD höhere Steuern auf Energie. Hans Monath

Tagesthema

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