In uns allen lauert der Studienrat

Die Konzeption der unzähligen Reiseführerreihen verstellt den freien Blick aufs Mittelmeer, und die Serviceleiste bremst das Talent der Autoren. Anmerkungen zu einer Fachtagung der „Stiftung Lesen“ über die Reiseliteratur  ■ Von Edith Kresta

„Reich und berühmt“ wolle sie werden, erzählte eine Bekannte. Und wurde Reisebuchautorin. Mit enormen Arbeitseifer und geringer Vorausbezahlung schreibt sie nun Führer nach Führer. Und wenn auch mancher einen verkaufsträchtigen Titel hat, reich, geschweige denn berühmt wurde sie bislang nicht. Im Gegenteil, sie arbeitet viel, und die Bezahlung ist schlecht. Nicht gerade bescheidene 150.000 Mark Jahresumsatz bräuchte ein „durchschnittlicher Primärautor“, um bei angebrachtem Arbeits- und Rechercheaufwand entsprechend zu verdienen. So das Fazit einer Arbeitsgruppe über Reisebuchautoren auf der Fachtagung „Reiseliteratur“ im thüringischen Apolda. Autoren, Verleger, Journalisten und Kundige in Sachen Buch widmeten sich dort in der Reiseführer-verdächtigen „Toskana des Ostens“ der Reiseliteratur unter besonderer Berücksichtigung der „Reise(ver)führer.“ Organisiert wurde die Tagung von der „Stiftung Lesen“, denn immerhin ging es „um die Auswirkungen, die Reisebücher auf Kultur und Reisen in unserer Gesellschaft haben“, so der Mitorganisator Tobias Gohlis.

Der Reiseführer als Brücke zu Land und Leuten. Die Architekur dieser Brücke orientiert sich bis heute am guten, alten Baedecker: Sie besteht aus Sehenswürdigkeiten, Ursprünglichkeit von Natur und Sozialstruktur, Geschichte und den einschlägigen Tips, all dies zu genießen. Mit eindrücklichen Zitaten aus eigenen Werken beschrieb der Reisebuchautor Christoph Henning den unwiderstehlichen Hang des Autors zum Adjektiv: schön, typisch, besonders, pittoresk, exotisch, unberührt und ursprünglich oder archaisch. Untermalt wird dieser Hang zum Stereotyp durch die visuelle Präsentation. Kein Reiseführer zu Italien ohne Fotos von Marktfrauen, ländlichen Idyllen und geselligen Plätzen. Die Suche nach dem Charakteristischen beginnt und endet in der gepflegten Rückständigkeit eines Landes. Der Urlauber will keine Autobahn – auf der fährt er nur dorthin. Er will „Traumlandschaften.“ Das Reisebuch zeigt sie ihm. Die Reiseführerkonzeption legt sich als Schablone über ein Land und deckt nur touristische Bedürfnisse ab. Neben der obligatorischen Beschreibung von Land und Leuten, einheimischer Küche und Fortbewegungsmittel bleibt dem Autor wenig Raum für eigene Wahrnehmung, subjektive Entfaltung. Die Konzeption verstellt den freien Blick aufs Mittelmeer.

Diesen Blick zu öffnen sind alternative Reiseführer angetreten. Die Schablone franste an den Ränder aus. Die Konzeption wurde durchlässiger. Der Zugang zu Land und Leuten wurde dadurch manchmal objektiver, realistischer, aktueller, manchmal auch nur skuriler. Entwickelte der Baedecker die kurze, trockene Beschreibung von Sehenswürdigkeiten, Geschichte und Besonderheiten, entstand nun mitunter ein krauses Sammelsurium von Geheimtips und Annäherungen. „Nur wenige Reihen bieten ein Maximum an Selbstständigkeit, offener Information und Orientierung“, konstatierte Tobias Gohlis in seinem Vortrag zur Geschichte der Reisebücher. Und er wunderte sich: „Warum gehen gerade solche Reihen wie die Titel der VSA- Reihe oder Mundo-Führer ein?“

Vielleicht, weil das Maximum an Selbstständigkeit in diesen politischeren und aktuelleren Führern nicht gefragt ist. Und vielleicht mißt sich der Gebrauchswert eines Reiseführers einzig an der Orientierungshilfe, die er gibt, also am praktischen Tip. Ganz im Sinne Baedeckers eben, der dem Reisenden Anleitung geben will, „mit möglichst geringem Zeit- und Geldaufwand dasjenige rasch zu überblicken, was seine besondere Aufmerksamkeit verdient, ohne ihn mit einem Wust unbedeutender Einzelheiten zu überhäufen“. Wer will sich schon beim Anblick des Taj Mahal mit dem vielleicht schlecht geschriebenen Lebenslauf eines Rischkafahrers beschäftigen? Und da man möglichst reibungslos seinen Urlaubspläne umsetzen will, ist man auch für den pädagogischen Zeigefinger dankbar. Im Sinne von: „Vor dem Tempel Schuhe ausziehen!“ „Die meisten Reiseführer“, so die Ethnologinnen Klara Löffler und Elisabeth Fendl, „treten mit einem pädagogischen Programm und Moral an.“ In Reinform solche Titel wie „Kulturschock“ aus dem Peter Rump Verlag oder „Land und Leute“ von Polyglott. Der Leser als Schüler, der Autor als Lehrer, die Reise als seichtes Bildungsgut im Sinne interkultureller Kommunikation. „Mein Verhältnis zu Reiseführern ist ein problematisches“, kommentierte der Reisejournalist Hans Scherer. Der Reiseführer, so Scherer, „wecke den Studienrat in uns allen“. Er aber will „selbst seine Entdeckungen machen“.

Nun mag die „kollektiv organisierte Individualität“ in Reiseführern nicht Scherers und nicht jedermanns Sache sein. Auf dem Markt treibt sie dafür immer neue Blüten. Zirka 5.500 Titel und 223 Reihen stehen zur Auswahl. Vom Special- Interest-Führer zum Tauchen, Reiten oder Golfen, über Frauen mit Kindern oder mit Hunden bis zu den Allzweckführern, die es allen recht machen wollen. 1994 sollen immerhin 22 Millionen Bücher verkauft worden sein, so der Marktforscher Joachim Tresp. Dabei kämen rund 648 Verlage auf einen Jahresumsatz von 440 Millionen Mark. Vor allem Leute mit Abitur und Studium griffen zum Führer. Abnehmer teurer Reisebücher sei die Altersgruppe zwischen dreißig und fünfzig, ältere und jüngere begnügten sich mit preiswerteren Produkten. Angesichts solcher Marktentwicklung scheint es müßig zu fragen, wie ein guter Reiseführer auszusehen hat. Eine entsprechende Arbeitsgruppe blieb zumindest erfolglos. Dort wurden lediglich Qualitätskriterien für Reiseführer dargestellt. Diese orientieren sich weniger am Sprach- und Einfühlungvermögen des Autors, seiner schreiberischen Qualität, als an Fakten, Übersichtlichkeit und Information. Solche Kriterien hat beipielsweise die Stiftung Warentest in ihrer Untersuchung aufgestellt, oder das Reisemagazin Globo, das seine Ergebnisse präsentierte.

Der Griff zum Reiseführer ist eine Frage des persönlichen Anspruchs, des Geschmacks, der Vorlieben und der Moden. Wer tauchen will, sucht nicht den historischen Rundumschlag, wer reiten will, keine aktuelle politische Situation. Ein Reiseführer hat vor allem praktischen Wert. Der Autor verschwindet nur allzuoft hinter der Serviceleiste. Reich und berühmt wird er kaum. Und im harten Verdrängungswettbewerb ziehen gerade die anspruchsvollsten Bücher, die aufwendiger produziert sind, den kürzeren. Doch bei 223 Reihen bekommt fast jeder den Reiseführer, den er verdient. Oder er schreibt ihn noch.