Neues vom Nabel

Würden Sie diesem Mann Ihre Dachbude vermieten? Wenn ja, Obacht! Steven Jones alias Baby Bird hat in Heimarbeit Hunderte von Stücken gebastelt. Nun droht der Erfolg – flieg, kleiner Vogel, flieg...  ■ Von Thomas Winkler

Guck Werbung, lies Frauenmagazine, der Mann ist nicht mehr das, was er mal war. Von Männern wird erwartet: Eitelkeit, trainierter Körper, gepflegte Erscheinung. Aber der Junge, der Nick-Hornby-Junge, der Musik machte, um leichter die Mädchen zu kriegen, der einfach losplauderte von seinen Befindlichkeiten und was ihm sonst so im Kopf rumging, der Junge hat sich in die Kemenate zurückgezogen, um nicht von penetrant fröhlichen Jungmenschen in orangenen Leibchen mit Space-Club-Aufdruck schief angeguckt zu werden. Dort studiert er seinen Bauchnabel, ganz so, wie er es vorher auch schon tat. Aber er erzählt niemandem davon. Ganz bestimmt nicht.

Der Vogel

Und dann kommt einer aus Sheffield daher und streckt diesen Bauchnabel auf dem Cover, wo jeder es sehen kann, in die Luft. Der Nabel ist in diesem Fall auf einem Bauch plaziert, der offensichtlich schwanger sein möchte. Die Platte ist von einem – ja, wie soll man es nennen? – Projekt namens Baby Bird und heißt „Fatherhood“. Der Mann dahinter heißt Steven Jones. Steven Jones hat keine Kinder. Aber Steven Jones ist jetzt „in einem Alter, in dem ich darüber nachdenke, ob ich welche kriegen sollte oder nicht“. Das ist ein wichtiges Thema, da kann man schon mal eine Platte drüber machen. Finden Sie nicht auch?

Von Geburt ist Jones zwar Neuseeländer, aber seine neue Heimat hat abgefärbt. Er ist höflich, wiederholt auch schon mal geduldig, wenn der Frager nicht verstanden hat, und hört zu, was immer man Blödes auch sagt. Und Blödes mußte er sich schon einiges anhören. Wer möchte schon vom Melody Maker als „Monomaniac“ bezeichnet werden und vom NME unterstellt bekommen, man würde die Unterhosen wohl selten wechseln („lebt in einem feuchten Dachzimmer, wo er sich vermutlich ausschließlich von Fischstäbchen ernährt...“)?

Trotzdem war das Verhältnis der britischen Musik-Weeklies zu diesem obskuren Spitzwegtypen, der innerhalb kürzester Zeit zwei Platten in den Top ten der Independent-Charts plazieren konnte, ambivalent: Offiziell zeigte man sich nicht amüsiert, aber hinter den Zeilen war jederzeit Faszination zu lesen: Da tut einer, was er tun muß, sich sonst aber niemand mehr traut.

Die Strategie

Der Grund für die Aufregung: Steven Jones hat nicht nur eine Platte gemacht. Er hat als Baby Bird gleich vier veröffentlicht. Innerhalb von weniger als zehn Monaten. Zwar nur als limitierte Auflagen, aber nicht schlecht für jemanden, der vor einem Jahr im Musikbusiness soviel zu melden hatte wie ein Eisbär in der Südsee. Auf einem Cover wird stolz vermeldet, was für alle gilt: „Recorded on a 4 track tape recorder no bigger than a VCR.“ Die fünfte Platte erscheint dieser Tage, die sechste wird bald folgen: Es ist eine Best- of-Compilation aus den ersten fünf, die zusammengestellt wird nach den Wünschen der Käufer. Den ersten fünf CDs lagen Stimmkarten bei, von denen bisher 1.000 zurückgeschickt wurden.

Was ist da los? Eine am Reißbrett entworfene Marketingstrategie? Ein Masterplan zur handstreichartigen Übernahme des britischen Popgeschehens? Der Selbstverwirklichungstrip eines schüchternen Egomanen? Nichts von alledem, läßt der Künstler wissen. In Wirklichkeit sei nur eine „drunken idea“ verantwortlich gewesen. „Normalerweise wacht man morgens verkatert auf“, erzählt Jones, „und denkt, das kann gar nicht funktionieren.“

Aber die Idee blieb. Nicht weil Jones sie am folgenden grauen Morgen noch so genial gefunden hätte, sondern weil sie schlicht die letzte Möglichkeit war, zumindest einen Teil der knapp 400 Songs zu veröffentlichen, die er in den sechs Jahren zuvor geschrieben und völlig allein in seinem Sheffielder Schlafzimmer auf jenem Vier- Spur-Rekorder aufgenommen hatte: „Es waren Frustration und Verzweiflung. Zwei Jahre lang bin ich hausieren gegangen mit den Bändern und wurde herausgelacht aus den Büros von Plattenfirmen.“

Der Erfolg

Wieder ausgenüchtert, wurde ein eigenes Label gegründet und naheliegenderweise Baby Bird Recordings getauft. Sechs Veröffentlichungen in einem Jahr, jeweils eine Auflage von 1.000 Stück, das war der Plan. „Alles hob sehr viel schneller ab, als wir gedacht hätten. Und es hat funktioniert. Ich bin immer noch überrascht.“

Die obskure Geschichte geht nicht nur durch die Presse, die Engländer kaufen dem Spinner auch noch seine Scheiben ab. „Am Anfang haben wir nie daran gedacht, überhaupt was loszuwerden. Die erste ist hier in England schon nicht mehr lieferbar.“ Demnächst wird nachgepreßt, und Jones kann geliehenes Geld zurückzahlen. Die Plattenfirma für die Best-of-Compilation konnte er sich nach dem überraschenden Erfolg aussuchen. Echo, das Label von Julian Cope und Moloko, versprach ihm absolute künstlerische Freiheit und so viele Veröffentlichungen, wie er will und wo er will.

Waren Beck und Sebadoh die amerikanische Antwort, als der Monsterrock plötzlich wieder sein grausig Haupt erhob, so ist Baby Bird der Antipode zur aktuellen Britpop-Offensive. Da leiert im Hintergrund ein Band gequält durch den Schnelldurchlauf, und sicher laufen irgendwo auch welche rückwärts. Überhaupt tauchen ständig Klänge auf, die man lange missen mußte. Elektronische Rhythmen wie aus dem Casio, dünne Keyboard-Linien, mal ein Xylophon. Nie verliert Baby Bird den Charme der Fingerübung, aber niemals auch riecht es nach Dilettantentum. Mal psychedelisiert er wie die Byrds, kopiert den Agit-Prop von The Fall genauso wie den Gummibärchenpop der Beach Boys oder die elegische Todessehnsucht der Sisters of Mercy. Mal singt er wie David Bowie, mal wie Jim Morrison, schlußendlich aber hört er sich einfach an wie er selbst.

Baby Bird ist näher dran an den Beatles, als Blur es jemals sein könnten – und wenn es nur daran liegt, daß die Beatles für „Sgt. Pepper“ auch noch keinen Sampler benutzten. Von den Aufnahmetechniken der Jetztzeit trennt Baby Bird mindestens ein Quantensprung, von den 60ern und 70ern nur ein paar Jahrzehnte, in denen die klassischen Prinzipien des großen Songwriting nicht wesentlich angetastet wurden. Das geschrumpfte Empire und sein beschädigtes Selbstbewußtsein erinnern sich gerne an die glorreiche Vergangenheit, als Britannien die USA im Pophandstreich nahmen.

Allerdings, und darauf legt Jones großen Wert, war allein das Geld der Grund für die beschränkte Aufnahmequalität: „Armut macht einfallsreich. Ich wollte nie ein Low-Fi-Künstler sein. Wenn ich mir teurere Instrumente hätte leisten können, hätte ich sie benutzt.“ Das vorsichtige Tasten allerdings, das sich auch aus den beschränkten Möglichkeiten ergibt, ist Prinzip, und man wünscht sich, er möge niemals finden, was er sucht. Vielleicht ja den perfekten Popsong? Den Heiligen Gral? Ist das nicht altmodisch, ist das nicht wundervoll? „Ich hoffe“, sagt Jones, „die Musik ist romantisch.“

Das Tagebuch

Noch ein Mißverständnis: Der weltabgewandte Tüftler, zu den ihn Englands Presse gerne machen wollte, war er nie. „Wenn man in England das Wort Kunst in den Mund nimmt, macht man sich sehr schnell verdächtig. Daß ich in meiner Wohnung saß und dort meine Songs geschrieben habe, wird hier als bemitleidenswert empfunden.“ Dabei geht der Mann raus, tanzen sogar. Ausgesprochen gern hört er HipHop. „Ich habe mit Leuten aus Frankreich und Holland und sogar den USA gesprochen, und die fanden das eher sehr romantisch. Es steckt sehr viel Überlegung hinter den Platten, aber ich würde nie das Wort Kunst verwenden.“

Soll man ihm glauben? Die fünf Platten heißen in der Folge ihres Erscheinens: „I Was Born A Man“, „Bad Shave“, „Fatherhood“, „The Happiest Man Alive“ und schließlich „Dying Happy“.

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

Zwar seien sie keine Konzeptalben, darauf besteht Jones, aber „ein Thema gibt es definitiv bei jeder“. Eine Platte lang tritt Baby Bird in die Welt ein, dann pubertiert er und muß sich rasieren, er kriegt Kinder, und bevor er stirbt verarbeitet er noch seine Midlife-crisis.

So haben die Platten mehr Ähnlichkeit mit einem Tagebuch als mit einer Poprevolution. Viele Songs beginnen mit der Floskel „I remember...“, und noch mehr sind Gedanken, die man normalerweise bestenfalls unter Drogeneinfluß für wert befinden würde, anderen mitzuteilen – aber Papier von Tagebüchern ist bekanntlich geduldig: „I'm shaped like a knocker on the door of mankind / bang me once or twice“. Doofe Wunschträume: „Pull your pants down and dance around / Completely naked in Chinatown“. Hinterhofpsychologie: „I feel like a woman / Yet I was born a man / Wish I'd been christened Valerie instead of Stan“. Blanker Zynismus: „I'm always happy, I'm never sad / The world's a wonderful place and I'm glad“.

Wir haben es vermutet: Baby Bird, das Alter ego, trägt durchaus autobiographische Züge: „Baby Bird ist im Grunde schon ich. Das meiste ist mir oder zumindest Freunden von mir passiert.“ Und ist die Musik nicht sein Kind, sein kleines Baby? Will uns das der Name nicht sagen? „Der Grund für den Namen ist, daß die Musik sehr einfach, nett und zerbrechlich ist. So wie ein kleiner Vogel.“

Soviel ist also schon mal klar, mit einer Popproduktionseinheit hat man es hier nicht zu tun. Das Bild vom Künstler, der seine Ergüsse noch an der eigenen Brust mit Herzblut nährt und gegen alle Widerstände nach Veröffentlichung drängt, nach Selbstverwirklichung, ist ganz sicherlich nicht mehr zeitgemäß. Aber offensichtlich haben nicht wenige auf so jemanden wie Baby Bird gewartet.

Das dicke Ende?

Nun regiert die Angst, die eigentlich auf den Rock 'n' Roll-Müllhaufen geworfene Angst vor dem Ausverkauf. „Ich will kommerziell so erfolgreich wie möglich sein, allerdings ohne Kompromisse. Aber es ist kompliziert, der Druck wird immer größer, und die ganze Sache wird verwässert. Immer mehr Leute hängen sich an Baby Bird dran.“ So gibt der Künstler Jones ein verwirrendes Bild ab. Mal kokettiert er mit dem Mainstream- Erfolg und verkündet, er sei beleidigt, sollte er im Sommer nicht die Top ten okkupieren, mal regt er sich über das grölende Publikum bei den Auftritten auf, als wüßte er nicht, was der Massenerfolg notgedrungen mit sich bringt.

„Es war doch so, daß wir die Musikindustrie nie abgelehnt haben, sondern die nicht interessiert war“, versucht Jones abzustecken, wo die Grenzen für ihn und seine Band liegen, mit der er die Songs für das demnächst erscheinende fünfte Album „Dying Happy“ neu einspielte. „Ich hätte nichts dagegen, im Fernsehen aufzutauchen, und wenn es unsere Platten schon in unterste Bereiche der britischen Charts schaffen, ist alles möglich.“

Aber, das weiß er genau, und plötzlich klingt er gar nicht mehr romantisch, sondern wie ein Geschäftsmann, der Profitchancen und -risiken abwägt, „jetzt eine polierte Platte zu machen, wäre ein großer Fehler. Diese Platten waren bisher erfolgreich, weil sie ungewöhnlich sind. Daraus kann man keinen Mainstream machen.“

Baby Bird: „I Was Born A Man“, „Bad Shave“, „Fatherhood“, „The Happiest Man Alive“, „Dying Happy“ (alle Baby Bird Recordings/RTD Imports)