Anti-AKW-Renaissance oder Strohfeuer

■ Zehn Jahre nach Tschernobyl gibt es immer noch und immer wieder einige aktive Anti-Atom-Gruppen. Jüngere machen wegen Castor und Moruroa mit

Die Anti-Atom-Bewegung verdankte ihre Stärke der Katastrophe in Tschernobyl. Unmittelbar nach der Explosion des Reaktors in der Ukraine hatte sich in Berlin die „Aktion stillende Mütter“ gebildet, die aus Furcht vor gefährlichen Strahlen und einer Desinformation durch den Senat eigene Messungen durchführte. „Unser Protest wurde oft als westliche Wohlstandshysterie abgetan“, erinnert sich Anja Röhl. „Aber wir waren konsequent politisch und forderten den Atomausstieg.“ Die besorgten Mütter hatten sich auch nicht von ihren Ehemännern („Hier ist es doch gar nicht so schlimm“) oder von der Skepsis der Grünen („Ihr macht Politik mit euren Kindern“) beeindrucken lassen. Sie organisierten die große Hebammendemo in der damals noch geteilten Stadt, änderten den Vereinsnamen in „Mütter und Väter gegen die atomare Bedrohung“ und veröffentlichten ihre Meßergebnisse in der „Strahlenlupe“. Viele unter den Besorgten boykottierten damals Frisches. „Nur noch Dosen und Milchpulver waren angesagt“, erinnert sich Hartwig Berger, heute umweltpoltischer Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus. Damals waren 1.000 Menschen bei den Anti-Atom-Müttern eingeschrieben, heute sind es 300. Von ihnen sind noch ganze fünf aktiv. Sie konzentrieren sich auf die Unterstützung einer Babynahrungsfabrik in der Ukraine.

Kontinuität dagegen beim Verein „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW). Die Gruppe hatte schon im Jahr vor Tschernobyl den Friedensnobelpreis erhalten und setzt auch heute noch auf den langen Atem. Noch heute sind nach Angaben ihres Geschäftsführers Michael Roelen 40 Mitglieder in Berlin aktiv und veranstalten, wie am letzten Wochenende in der Humboldt-Uni, einen Kongreß über die gesundheitlichen Folgen des GAUs. Bei Greenpeace hat das Personal dagegen fast völlig gewechselt. Die „Arbeitsgruppe Atom“ wurde vor anderthalb Jahren eingeschläfert. Dank der Atomversuche in Moruroa und der Castortransporte haben sich aber wieder einige Abiturienten zusammengefunden. Sechs Leute treffen sich dort und machen, wie Doris Bock sagt, die „Drecksarbeit“: Plakate malen, Briefe kleben. Jung sind auch die vier, die sich seit dem ersten Castortransport in der Humboldt-Uni als „Anti-Atom-AG“ treffen. Eine von ihnen, Gabriele Weineck (21), sagt, ihre Gruppe habe sich „irgendwie auch aus der Antifa herausentwickelt“ und sage jetzt den Atommülltransporten den Kampf an.

Koordiniert werden gegenwärtig die Aktionen in Berlin vom Anti-Atom-Büro vom August 1995. Dort arbeiten verschiedene Gruppen zusammen. Aktivist Stevie Teubner begründet die kleine Renaissance der Anti-Atom-Bewegung auch mit den Schlagworten Castor und Moruroa – und fügt noch Gorleben hinzu. Die meisten, die jetzt dabei sind, sind nach Teubners Ansicht, wie er selbst, neu in der Szene. „Bei Tschernobyl hat mich das alles noch nicht so tangiert“, sagt er. Seine Bekannten sagen ihm zwar, daß das gut sei, daß er sich engagiere. Sie selbst schöben aber meist fehlende Zeit vor, wenn er sie zum Mitmachen überreden wolle. Allgemein sei das Klima in der Bevölkerung heute jedoch wieder aufgeschlossener gegenüber der Anti-AKW-Bewegung: Mehr Passanten interessieren sich für die Flugblätter. Und sogar die Polizei habe schon zweimal ein Auge zugedrückt, als sie ihn beim illegalen Plakatekleben erwischt habe.

Elke Fenster von „Aktiv gegen Strahlung“ kann dagegen, trotz des Schubs durch einige Jüngere, keine Wiederbelebung der Bewegung entdecken. Jahrestage wie Tschernobyl sorgten nur für einen kurzen Aufwärtstrend. Markus Grill