Mord an Kindern als Kavaliersdelikt

596 Kinder und Jugendliche wurden im vergangenen Jahr in Rio ermordet, viele von der Polizei. Erstmals stehen in Brasilien Polizisten deswegen vor Gericht – die Zeugen haben Angst  ■ Aus Rio Astrid Prange

Vor dem Gerichtsgebäude im Zentrum von Rio de Janeiro ist Yvone Bezerra de Melo nicht gern gesehen. „Geh nach Hause Wäsche waschen“, gehört noch zu dem Harmlosesten, was sie zu hören bekommt. Die Bildhauerin hält täglich eine Mahnwache für die acht Straßenkinder ab, die im Juli 1993 vor der Candelaria-Kirche im Zentrum von Rio im Morgengrauen erschossen wurden. Mit ihrem Einsatz für die „Aussätzigen“ hat sich die Künstlerin die Verachtung eines großen Teiles der Einwohner Rios eingehandelt. „Viele Leute“, so Yvone Bezerra, „bedauern es, daß ich vor drei Jahren nicht gleich mit erschossen wurde.“ Doch erstmals in der brasilianischen Strafrechtsgeschichte stehen die mutmaßlichen Täter des Massakers vor Gericht. Montag nächster Woche beginnt der aufsehenerregende Prozeß, der sich über mehrere Monate hinziehen wird.

Die Ermordung der acht Straßenkinder, die vor der Candelaria- Kirche im Zentrum von Rio schliefen, schockte vor drei Jahren die brasilianische Öffentlichkeit. Aber die Empörung währte nur kurz. Die Gruppe der 72 obdachlosen Jugendlichen, die damals vor den Kirchentüren nächtigten, hat sich heute nach Angaben von Yvone Bezerra auf drei verschiedene Stadtteile verteilt. „An dem Problem der Straßenkinder hat sich nichts geändert“, konstatiert die Bildhauerin und klagt, Rios Einwohner, der Raubüberfälle und Straßendiebstähle überdrüssig, hätten die Resozialisierung der aufrührerischen Jugendlichen aufgegeben. „Straßenkinder sind keine Kinder, sondern Kriminelle, die kein Recht auf Leben haben“, beschreibt sie die vorherrschende Meinung der Öffentlichkeit.

Wenn ein Polizist aussagt, zählt das eben mehr

Menschenrechtsorganisationen befürchten, daß die Abwehrhaltung gegenüber der wachsenden Armut rund um den Zuckerhut die Verurteilung der acht Angeklagten, mehrheitlich Militärpolizisten, vereiteln könnte. „Vor Gericht steht Aussage gegen Aussage“, erklärt Yvone Bezerra. Und die Aussage eines Polizeibeamten und Familienvaters zähle bedeutend mehr als die eines Straßenjungen, der Klebstoff schnüffele.

Bezerra setzt ihre Hoffnung auf den einzigen Überlebenden des Massakers, Wagner dos Santos. Der mittlerweile 22jährige ehemalige Straßenjunge lebt aus Sicherheitsgründen seit einem Jahr in der Schweiz und absolviert dort eine Lehre im Hotelfach. Wagner soll die mutmaßlichen Mörder bei einer Gegenüberstellung wiedererkennen.

Insgesamt fünfzehn Zeugen leben nach Angaben des Brasilianischen Zentrums zur Verteidigung der Rechte von Kindern und Jugendlichen (CBDDCA) gegenwärtig außerhalb Brasiliens. CBDDCA-Anwältin Cristina Leonardo fordert von der brasilianischen Regierung, ein Zeugenschutzprogramm aufzulegen. Aber „hier in Rio gibt es für solche Programme überhaupt kein Verständnis“, erläutert die Rechtsanwältin. Auch Wagner dos Santos sei nur ausgeflogen worden, weil Präsident Fernando Henrique Cardoso sich gegenüber „amnesty international“ dazu verpflichtet habe.

Die offizielle Statistik des Bundesstaates Rio de Janeiro belegt die Eskalation der straffreien Gewalt. Nach Angaben der Polizei wurden im Jahr 1994 insgesamt 513 Morde an Minderjährigen verübt. Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Todesopfer auf 596 Jugendliche. Nichtregierungsorganisationen gehen von einer noch einmal so hohen Dunkelziffer aus.

„Der Junge wurde nicht mit Absicht erschossen“

Nicht nur die Morde an Minderjährigen nehmen zu. Seit dem Antritt des neuen Sicherheitssekretärs, General Nilton Cerqueira, im Mai vergangenen Jahres sterben pro Monat im Durchschnitt 20 Menschen bei Schußwechseln mit der Polizei. Jüngstes Opfer ist das zweijährige Baby Maicon de Souza aus Rios vernachlässigtem Stadtteil „Acari“. Der kleine Junge starb am 15. April, als Militärpolizisten eine Siedlung mit Sozialbauten auf der Suche nach Drogenhändlern stürmten. Der Junge sei „aus Versehen“ im Schußwechsel mit den Banditen gestorben.

Kritik an dem exzessiven Einsatz von Gewalt der Polizei läßt Sicherheitssekretär Cerqueira nicht gelten. Auf einer Pressekonferenz am Donnerstag erklärte der General, daß er selbst im Falle nachgewiesener Schuld eines Polizisten am Mord des zweijährigen Jungen keine Strafe vorsehe. „Wenn einer der Beamten den Jungen erschossen hat, dann nicht mit Absicht“, verteidigte der General seine Untergebenen, bestätigte aber, daß die Polizisten auf seine Anweisung hin bei der Verfolgung von Verdächtigen sehr schnell die Waffe ziehen. „Wer nicht zuerst schießt, stirbt“, rechtfertigte sich der General. Alle 201 Kinder und Erwachsene, die in den letzten zwölf Monaten von der Polizei aus „Notwehr“ erschossen wurden, seien „Banditen“ gewesen.

Die Untersuchungen des Jugendrichters Geraldo Prado aus Rio widerlegen die Thesen des Generals. Lediglich drei Prozent der im vergangenen Jahr ermordeten Jugendlichen seien vorbestraft gewesen, erläutert Geraldo Prado.

„Rio muß sich ein für allemal von seinem negativen Ruf als Hochburg der Kriminalität befreien und den Candelaria-Kindern Gerechtigkeit widerfahren lassen“, fordert Yvone Bezerra das Ende der Straffreiheit uniformierter Mörder. Solange die Verantwortlichen nicht hinter Gittern säßen, könne sich jeden Tag ein neues Massaker ereignen.