Der ganz alltägliche Sadismus

Morde und die Mißhandlung von Untersuchungshäftlingen sind in der Russischen Föderation integraler Bestandteil des Justizsystems  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Nikolaj Bannow (41) aus Saransk, Landwirtschaftssachverständiger und Farmer aus Leidenschaft, hätte als positives Symbol des neuen Rußland dienen können. Mit Frau, Tochter, Schwiegersohn und zwei Angestellten schaffte er es, vor den Toren der Hauptstadt der Föderationsrepublik Mordwinien in wenigen Jahren einen blühenden Bauernhof auf die Beine zu stellen. Aber Bannow besaß zu viele Neider. Als er letztes Jahr mit einem Bekannten in Streit geriet, dem er einen Lastwagen vermietet hatte, rief der seinen Nachbarn, Polizeihauptmann Hajdukow. Der fackelte nicht lange, führte den Farmer ab und bearbeitete ihn auf dem Revier mit Fäusten und Stiefeln.

Nachdem Bannow das Bewußtsein verloren hatte, ließ Hajdukow ihn auf den Hof schleifen, damit er in der kalten Luft wieder zu sich käme. Dann fuhr er fort, ihn zu malträtieren, bis der Tod eintrat. Die Leiche fuhr der Hauptmann in seinem Privatwagen an den Stadtrand von Saransk, wo er sie einfach „wegwarf“. Der Aufenthalt in russischen Untersuchungsgefängnissen kommt an sich schon einer Folter gleich. Sadistische Mißhandlungen und Morde an „vorübergehend“ Festgenommenen und Untersuchungshäflingen muß man in der Russischen Föderation als integralen Bestandteil des Justizsystems bezeichnen.

Immer wieder tauchen in den Zeitungen Berichte über Menschen auf, die nach der Untersuchungshaft dank unbewiesener Schuld die Freiheit wiedererblicken – als Krüppel.

Wer in Moskau festgenommen wird, rechnet erst einmal damit, tüchtig „eins auf die Schnauze“ zu bekommen. Innenministerium und Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation mußten dies Ende 1995 zugeben. Genannt wurden da die Zahlen von 1.400 wegen diverser „Dienstvergehen“ und 500 wegen „Korruption“ gegen Milizmitarbeiter angestrengter Verfahren. Nach Ansicht ihrer Vorgesetzten sind die meisten Milizionäre schlicht zu ungebildet, um zu wissen, was sie tun. Auf die Frage, warum denn die Miliz ihre Anwärter nicht sorgfältiger auswähle, antwortete der Sprecher des Innenministeriums: „Zu uns kommen eben keine besseren.“

Die Frage nach den skandalös niedrigen Gehältern bei der russischen Polizei führt direkt zum Thema Korruption. Die Mafia besticht Milizionäre und Staatsanwälte, um ihre eigenen Leute vor Gericht freizupauken. Gang und gäbe ist auch der „Ankauf“ von bei der Miliz gespeicherten Daten und von Informationen zu Überwachungsmaßnahmen und Razzien. So mancher bezieht dafür ein festes Zweitgehalt. Milizionäre, die Banditen sind, verhalten sich entsprechend gegenüber Mitbürgern, die sich in ihrer Gewalt befinden, wie Banditen.

Ein Wunder, wenn Beamte dennoch ehrlich bleiben. Der stellvertretende Chef der russischen Kriminalpolizei, Burkow, berichtete, letztes Jahr sei ein Milizoffizier, der die Zusammenarbeit verweigerte, von Kriminellen zu Tode gefoltert worden. Was aber die Knochenbrecher in Uniform betrifft, so befindet sich ihre Hochburg im anfangs erwähnten Mordwinien, wo zehn Prozent der Mannschaften wegen verschiedener Verbrechen angeklagt sind. Acht Menschen kamen dort allein im letzten Jahr in Milizgewahrsam um.

Kein Wunder, daß in allen Berichten des Innenministeriums zwar stets die Zahl der vor Gericht gestellten Missetäter, nicht aber die Anzahl der Verurteilungen genannt werden. Denn die Prozesse enden durch die Bank mit Vergleichen oder Bewährungsstrafen. In der Regel halten Untersuchungs- und Verfolgungsbehörden in Rußland zusammen. Den Richtern räumt das russische Strafprozeßrecht wenige Vollmachten ein. Was den Extremfall Mordwinien betrifft, so mußte der dortige Innenminister, Kosow, inzwischen gehen. Sein Stellvertreter Rasin jedoch blieb im Amt. Und die Millizionäre wurden angewiesen, soviel wie möglich Uniform zu tragen, damit die BürgerInnen sich stets von ihnen umgeben und damit „sicher“ fühlen können.