Schirm & Chiffre
: Mai 68 meets technischen Fortschritt

■ Operateur kann jeder werden: Die Gruppe involving system hat ein Techno-Soundsystem aufgebaut

Die Eingabeknöpfe könnten genausogut der Steuerung einer der Displays in der Infobox am Potsdamer Platz dienen, die die Kreisläufe von Strom, Wasser und Wärme eines Heizkraftwerks verdeutlichen. Hier aber sind sie Teil einer Schnittstelle zwischen Techno und Soziologie. Die Gruppe involving systems hat sie entwickelt und im Rahmen von „zuhause“ implementiert, einer Veranstaltung von luxus cont., eigenen Angaben nach „noch ein gemeinnütziger Verein in den Archiven des Amtsgerichts Charlottenburg“. Die Präsentation besteht aus zwei Quadern, wovon der eine an den Kanten mit besagten gelben und grünen Druckknöpfen, der andere ebenfalls mit Buttons und einem Plattenspieler ausgestattet ist. Sie scheint aus einem Paralleluniversum zu stammen, in dem technischer Fortschritt und Mai 68 eine Synthese eingegangen sind, an deren Ende nicht der Walkman als Zeichen für die individuelle Verfügbarkeit von Musik steht. involving systems (http://www-cui.darmstadt .gmd.de:80/;oschatz/Involv/) haben ein Gerät entwickelt, das ein Kommunikationsfeld zwischen Menschen und Maschinen in Form eines stetig vor sich hin blubbernden Acidtracks generiert. Ein Soundsystem zum Eingreifen.

Operateur kann nach einer kurzen Einführung jeder werden: Per Knopfreihe läßt sich die Einspielung der Samples durch den Plattenspieler regeln. Gegenüber können verschiedene Drumpatterns ausgewählt werden. An den beiden verbleibenden Plätzen dienen die Knöpfe der Auswahl von Synthesizersounds und -sequenzen, als Endverstärker dient ein handelsübliches Gerät. Auch wenn so der Eindruck vermittelt wird, es handele sich hier um eine Anordnung von consumer electronics, die bloß ausreichend intelligent miteinander verschaltet sind, verbergen die Säulen professionelles Techno-Equipment. Nichtsdestotrotz könnte sie als Laborversuch zur Entwicklung alternativer Endverbrauchertechnologien durchgehen, und tatsächlich ist die Installation ein work in progress, das ständig optimiert wird.

Ausschlaggebend für den entstehenden Sound sind nicht die vorgeschalteten und damit beschränkenden Programmierentscheidungen durch involving systems, sondern die Fähigkeit der Anwender, die Musik während des Spielens miteinander zu planen, um eine größtmögliche Vielfalt beim Kombinieren verschiedener Sounds zu erreichen. Ein frisch eingetroffener DJ wundert sich dann auch für einen Augenblick, „was die hier für gute Platten spielen“.

Neben involving systems hatten luxus cont. auch Pauline van Mourik Broekman und Simon Worthington, die Herausgeber der in London erscheinenden Zeitschrift mute (http://meta mute.co.uk) in ihr Zuhause am Arkonaplatz eingeladen. Durch den programmatischen Anspruch einer „digitalartcritique“ unterscheidet sich das vierteljährlich in Zeitungsformat erscheinende Magazin von der Herangehensweise der Westküstenmatadoren Mondo 2.000 und Wired, die im Spannungsfeld von Cyberpunk und Silicon Valley operieren.

Deren „Californian Ideology“, die die Interpretation neuer digitaler Technologien und der elektronischen Netze dominiert, wird hier genauso hinterfragt wie die im Schlepptau eines „Digital ist besser“ gern formulierte These, mittels technologischer Erweiterung des Körpers warte die Befreiung schon auf der nächsten hard disk: „Proud to be flesh!“ ist mutes ironische Antwort. Die Zeitschrift soll als Diskussionsforum für die künstlerische Auseinandersetzung mit der digitalen Revolution fungieren und damit die Lücke zwischen traditioneller Kunstkritik und bloßer Affirmation der neuen Technik schließen; Die Herausgeber sind selbst in der Online- und CD-ROM-Produktion tätig und damit in den Vorgang des Verschwimmens von Tätigkeitsfeldern und Funktionen involviert, der im Medienbereich mit dem Fortschreiten digitaler Produktion einhergeht. Mitgebracht hatten sie u.a. ihre jüngste CD-ROM, eine Dokumentation über die französische Gesichtskünstlerin Orlan.

Der mute-Aufenthalt wird über „zuhause“ hinaus erwünschte Nebenwirkungen in Kiosken und Buchhandlungen haben: Das Magazin wird in Zukunft auch in Berlin erhältlich sein. Ulrich Gutmair