Das Material der Natur seziert

■ Die Erzählerin Katja Lange-Müller liest in Hamburg über ihre DDR-Vergangenheit

Immer am Rand lang, oder ab durch die Mitte, so könnte sich Katja Lange-Müllers Leben lesen: Geboren 1951 in Berlin-Lichtenberg, hatte sie es sich schon in Jugendjahren mit den enggeknüpften Mustern des realexistierenden Sozialismus verscherzt und wurde wegen „unsozialistischen Verhaltens“ von der Oberschule relegiert. Was sie nicht wollte, wußte die Tochter einer ranghohen Vertreterin der DDR-Hierarchie schon genau: nämlich genau dies.

Also ging es am sich verweigernden Rand lang – von der Setzerlehre und der Arbeit bei der Berliner Zeitung über sechs Jahre Arbeit als Pflegehilfskraft in psychiatrischen Krankenhäusern hin zum Literaturstudium. Auf einen einjährigen Studienaufenthalt in der Mongolei und die Arbeit in der Teppichfabrik „Wilhelm Pieck“ in Ulan Bator folgt 1984 die Übersiedelung nach Westberlin.

Als einsamste Strecke im Leben beschreibt Katja Lange-Müller auch in ihrem Erzählband Verfrühte Tierliebe die Jugend. Da sitzt eine erst dreizehn, dann 14jährige im Unterricht einer polytechnischen Oberschule an einem Tisch mit Blick in den Schulhof, und alles, was sie sieht, ist zuende gegangene Natur: Draußen stirbt gerade der letzte Baum vor der Fassade der Lehranstalt an der haltlosen Gefräßigkeit von Raupen, bis er gefällt wird, und drinnen sieht es kaum besser aus. Natur ist hier nur als Panoptikum von Fehlentwicklungen, Grausamkeit und Wucherung in mit Alkohol gefüllten Gläsern vertreten.

Trotzdem ist das Tierreich der Erzählerin Zuflucht, nicht nur in der seltenen, kurzen Begegnung mit einem tatsächlich lebenden Tier (eine lebendige, warme, züngelnde Schlange wird zum Glücksmoment), sondern vor allem in der Beschäftigung mit toten Tieren, die das Mädchen sich auf ganz eigene Weise aneignet. Da wird nämlich eine ganze Käfersammlung erst liebevoll in Einzelteile tranchiert, um dann mit Hilfe des mütterlichen Nagellacks zu neuen Gebilden, einer Art Käfer-Wolpertinger, zusammengesetzt zu werden.

Die akribisch-sezierende Betrachtung von tierischen Körperteilen wird im zweiten Teil dem eigenen Körper angetan: Knapp in den Körper einer werdenden Frau hineingeraten, sieht die Ich-Erzählerin sich, wohl kaum viel später, nackt dem Blick eines Kaufhausdetektivs ausgesetzt, der sie, die frischgemachte Kleptomanin, in diesem Zustand in eine Kaufhaus-Toilette einschließt.

Trotz der scheinbar so locker-flockigen Sprache der Lange-Müller, die wie dahingeplappert wirken könnte, wird ihre Verfrühte Tierliebe auch zum Seziertisch einer Gesellschaft, die es so nun nicht mehr gibt. Und zum ironischen Rückblick auf eine Sozialisation, die ihre ganze Form – wie bei der Autorin selbst – in der Reibung, dem Widerstand und dem Dochgeformtsein erhielt. Thomas Plaichinger

Di, 23. 4., 20 Uhr, Literaturhaus