Seitensprung im Seitenschiff

Im katholischen Brasilien laufen die Priester der Kirche davon und ihren Geliebten in die Arme. Jetzt droht dem Land Priesternotstand  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Fünf Jahre lang hat José Luis Negri seine leidenschaftliche Liebe nur im Verborgenen leben können. Jetzt hält er die Heimlichtuerei nicht mehr aus. Der Franziskaner aus dem Rio- Vorort Nilopolis will auf dem Standesamt sein Ja-Wort abgeben und die Heiratsurkunde anschließend nach Rom schicken.

Der 47jährige Geistliche gehört zu den rund 80 Priestern und Ordensbrüdern, die in Brasilien jährlich der katholischen Kirche den Rücken zukehren. Im noch größten katholischen Land der Welt laufen nicht nur die 150 Millionen Einwohner, sondern auch ihre Hirten der Kurie davon.

„Das Leben hinter Klostermauern oder im Elendsviertel ist heute nicht mehr attraktiv“, erklärt Rogerio Valle, Mitarbeiter des katholischen Statistikinstituts „Ceris“ aus Rio de Janeiro den Mangel an Berufungen unter Ordensbrüdern. Trotz des Bevölkerungszuwachses ging die Zahl der Ordensbrüder von 7.700 Kuttenträgern im Jahr 1964 auf 7.585 Männer im Jahr 1994 zurück. „Das Zölibat ist ein entscheidender Grund für die Stagnation“, weiß Rogerio Valle. Außerdem sei die Zahl der aus dem Ausland nach Brasilien entsandten Ordensbrüder stark zurückgegangen.

Der Franziskaner José Luis Negri hofft, daß die Kurie in seinem Fall eine Ausnahme macht und ihn auch als verheirateten Ordensmann Bibelkurse und Gottesdienste abhalten läßt. „Mein Glaube ist unerschüttert, das einzige Problem ist das Zölibat“, bekennt er gegenüber der taz.

Um sich seiner Entscheidung sicher zu sein, hat sich der Franziskaner für sechs Monate beurlauben lassen. „Die Leute aus der Gemeinde unterstützen meinen Wunsch, zu heiraten und eine Familie zu gründen“, erzählt er. Falls der Papst ihm die 1983 verliehene Priesterweihe entzieht, erwägt der Franziskaner, künftig im Auftrag der Lutheraner zu predigen.

In Wirklichkeit unterlaufen viele brasilianische Bischöfe die strengen Verordnungen aus Rom. Inoffiziellen Schätzungen zufolge sind 70 Prozent des brasilianischen Klerus in heimliche Liebesäffaren verwickelt.

„Insbesondere die Bischöfe aus dem Nordosten Brasiliens sind tolerant“, erläutert der Franziskanerpater David Raimundo Santos, der mit seinem Ordensbruder Negri im Rio-Vorort Nilopolis gemeinsam die mitunter mühevolle und schwere Gemeindearbeit leistet. Priester mit Familien seien dort „ganz normal“ und völlig akzeptiert. Das Zölibat ist nach seiner Meinung dafür verantwortlich, daß lediglich die katholische Kirche mit einer Berufungskrise zu kämpfen hat. „Weder die Protestanten noch die Spiritisten und auch nicht afro-brasilianische Religionen wie Candomblé leiden an Nachwuchsmangel“, konstatiert Ordensbruder Santos.

Nach Ansicht von „Ceris“-Mitarbeiter Rogerio Valle hat die Kurie die Veränderungen im Alltag der brasilianischen Priester noch nicht zur Kenntnis genommen. „Der Pater ist nicht mehr der asketische Intellektuelle, der die Einwohner einer Kleinstadt mit seinem Wissen beeindruckt. Er ist ein normaler Bürger, der auch mal in die Kneipe und ins Kino geht“, beschreibt er die Veränderungen. Statt wie früher Latein und Griechisch studierten angehende Würdenträger heutzutage Soziologie und Wirtschaft in den kirchlichen Seminaren.

Dom Augusto Alves da Rocha, Bischof in Brasiliens ärmstem Bundesland Piaui, macht die massive „Verweltlichung und den überzogenen Individualismus“ für die Krise der katholischen Kirche verantwortlich. „Das Zölibat ist nicht der Hauptgrund“, so der Bischof. Die moderne Massengesellschaft verführe die Jugend generell zu Egoismus und Erotik.

In den Priesterseminaren des nordöstlichen Bundesstaates bereiten sich zur Zeit rund hundert Studenten auf ihr Kirchenamt vor.

Im Gegensatz zu den Ordensbrüdern hat die Zahl der Priesterweihungen in den vergangenen zehn Jahren zugenommen. Rund 7.500 Pater predigen das Wort Gottes in Brasilien. Im Jahr 1984 verfügte die katholische Kirche über 5.433 Würdenträger. Angesichts der kontinentalen Ausmaße Brasiliens ist die Zahl jedoch alles andere als zufriedenstellend. „Ohne die 30.000 Ordensschwestern gäbe es in Brasilien keine Gemeindearbeit“, stellt der Befreiungstheologe Leonardo Boff klar. „Die Schwestern sind die Hebammen der Volkskirche!“

Wenn Frauen die Priesterweihe empfangen könnten, gäbe es keinen Mangel an Geistlichen“, lautet die Überzeugung des ehemaligen katholischen Pfarrers Claudino Aurelio Gottardo. Der 53jährige gab sein Priestergewand bereits 1976 zurück. Heute verdient der Familienvater mit vier verschiedenen Lehrerjobs seinen Lebensunterhalt im Rio-Vorort Duque de Caxias. „Die Schüler wollen wissen, warum die katholische Kirche Kondome ablehnt und gegen verheiratete oder weibliche Priester ist“, erzählt er. In ihren Augen sei die katholische Kirche gegen alles. Selbst die frommsten Gemeindeglieder hielten sich nicht an das Verbot „künstlicher Verhütungsmittel“ wie Pille und Kondome. „Die Distanz zwischen katholischen Idealen und dem Alltag der Gläubigen ist enorm“, weiß Gottardo.

Trotz aller Kritik an der katholischen Kirche würden Claudino Gottardo und José Luiz Negri gerne wieder in ihre Priestergewänder schlüpfen. „Die Priesterarbeit ist wunderbar! Wenn die Heirat kein Hinderungsgrund wäre, würde ich liebend gerne zurückehren“, gesteht Claudino Gottardo. Doch die Chancen stehen schlecht. „Beim Zölibat ist der Vatikan rigoros, es besteht nicht der geringste Spielraum“, weiß Rogerio Valle. Der Papst bestehe auf der Disziplin des Klerus, um die Gläubigen zurückzuerobern.