Der Dirk-Jan-Arne-Kosmos

Zwischen Vorabendserie und Twen-Age-Verzweiflung: Tocotronic aus Hamburg kämpfen um das Recht auf drei Akkorde. Wo steht der Feind?  ■ Von Thomas Groß

Unter „I“ wie „Ich“ ist wieder jede Menge los. „Ich möchte irgend etwas für dich sein“, „Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren“, „Ich habe geträumt, ich wäre Pizza essen mit Mark E. Smith“, „Ich heirate eine Familie“ – zitierfähige, aussagekräftige Minipoeme schon im Titel, was gleich ein wenig das Problem der dritten Tocotronic-Platte anzeigt: Zahlreiche jüngere Menschen haben seit dem Debüt „Digital ist besser“ (1994) Textzeilen des Hamburger Trios in ihr Leben integriert, sich etwa in ihrem Haß auf Tanztheater bestätigt gefunden – die Sentenz „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ gehört bereits zum goldenen Zitatenschatz der Rockkultur.

Das primäre Interesse an der Band ist sozusagen vom Inner Circle professioneller Aufbereiter zum stinknormalen Endverbraucher weitergewandert, und – alte Bauernregel – je mehr das platte Land einen liebt, desto mehr argwöhnen die Schriftgelehrten, hier würde Bauchrock in der ersten Person betrieben: „Tote Hosen der Neunziger“ (Spex) – tat das weh?

„Och, man muß halt wissen, wie man damit umzugehen hat“, meint Gitarrist, Sänger und Haupttexter Dirk von Lowtzow, 24, abwiegelnd und etwas müde, „die einen schreiben dies, die anderen das. Darf man nicht so viel drauf geben. Eigentlich ist es uns egal.“

Aber Mann, wenn alles gut läuft, könnt ihr demnächst ganz groß sein! Die deutschen Nirvana! Top of the Pops! Ist das etwa nichts?! „Erfolg“, kommentiert Bassist Jan Müller ungerüht, „so abgedroschen das klingt, manifestiert sich wenig in Verkaufszahlen.“ Schlagzeuger Arne Zank malt dazu still nickend Männchen.

Tocotronic, das bestätigt sich schnell, ist als Band kein schnöd- funktionales Gebilde, sondern autonome Zelle, in die keiner von draußen so schnell reingelassen wird mit irgendwelchen Einlassungen zum Modell. Das Dirk-Jan- Arne-Ding: Trainingsjacke, Cordhosen, erstaunliche Koteletten, auf zarter Wange erblüht – als wäre Neil Young unvermutet im Raver- Outfit wiedergeboren. Und das in der deutschen Diaspora.

Aber das Besondere according to Tocotronic ist gerade, daß das nichts Besonderes mehr sein soll – auch wenn wir hier nicht in Seattle sind. Die Enkelgeneration nimmt sich, vermittelt über diverse Zwischenväter, das Recht auf ihre Art der Party heraus. „Was an dem ganzen Gerede über Tocotronic am meisten nervt“, so Müller, „ist, daß man an uns andere Ansprüche richtet als an amerikanische Bands – Palace Brothers, Dinosaur Jr., Pavement oder so.“

Von Pavement haben Tocotronic die Technik des integrierten Fremd- und Eigenkommentars übernommen: der Song als fortlaufender Zugriff auf die Festplatte Rock, der Zuschreibungen korrigierbar macht und Positionen flexibel hält, erstmals praktiziert auf der Mini-LP „Nach der verlorenen Zeit“ (1995). Sprechende Titel: „Ich muß reden, auch wenn ich schweigen muß“ (Drama des Rockstars in nuce), „Es ist einfach Rockmusik“ (stoisches Festhalten am harten Kern), vor allem aber „Ich bin neu in der Hamburger Schule“ (Drama des New Kid in Town, das wachsende Szenezwänge als lehrerhafte Bevormundung abschmettert). So simpel rockt sich's heute nicht mehr. Die Verhältnisse sind nicht so. Wer nicht aufpaßt, kann mit 24 plötzlich ganz schön alt aussehen.

Heißt die neue Platte vielleicht deswegen „Wir kommen, um uns zu beschweren“? Revision des Verfahrens: nichtschuldig, Euer Ehren – eine Eingabe vor höheren Schwurgerichten des Rock 'n 'Roll? Nö, nö, natürlich nicht. „Das ist eben unsere typische Übertreibungskunst“ (Dirk). „Die Stimmung in der Band ist wirklich total relaxed“ (Jan). „Es war einfach so 'ne Idee“ (Arne). Immer den Ball flachhalten! Wer sich zu weit in die Kommunikation hineinbegibt, kommt darin um – als „Diskursrock“ will man schließlich auch nicht enden. Bei den Oberlehrern. Und überhaupt: „Ich weiß nicht, ob es so was gibt / und ob es an der Zeitumstellung liegt“ („Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“).

Trotzdem liegt dem gesamten Dirk-Jan-Arne-Kosmos ein tief in den Stücken vergrabenes Wissen um die Kräfte zugrunde, die heute an der Grundsubstanz des Rocks nagen. Reality bites, Corporate Rock sucks, Erfolg macht krank und bringt dir die falschen Freunde, so daß drei Viertel der Kraft des Unternehmens draufgehen, um das Drei-Akkord-Schema nach allen Regeln der Kunst aus seinen Aneignungen herauszupunken – und seien es die eigenen.

„Ihr seid das Salz in unsrer Wunde / und daran gehen wir zugrunde“: In Tocotronic-Songs kämpfen Zitat und Bekenntnis um ihren Platz an der Oberfläche der Selbstaussagen. Wie hasse ich noch zu Recht? Wo steht der Feind? Wie geht eigentlich das Leben? Ist es eine Vorabendserie geworden? What can a poor boy do? Gibt es den wahren Rocksong im Falschen? Bin ich ein Würstchen oder ein Star? In Songtiteln ausgedrückt: „Ich verabscheue eure Kleinkunst zutiefst“, aber auch: „Bitte, bitte, bitte, gebt mir meinen Verstand zurück.“

„Einfach Rockmusik“ ist das nicht mehr. Eher ein waghalsiger Selbstversuch, der auch mit der erfolgsträchtigen Niedlichkeitsoffensive des Jungens-Trios ins Gericht geht. Das Sloganeering ist zurückgeschraubt – wer die Band liebt, soll ihr auch an die Ufer schlammiger 8-Minuten-Stücke folgen. Insofern also doch ein schülerhafter Schrei nach Gerechtigkeit, aber einer, der bewußt mit seinen beschränkten, mittelständischen Mitteln hausieren gehen muß. „Wir kommen, um uns zu beschweren“ ist ein historischer Kompromiß. Es gibt darauf den Bekenntnissong: „Ohne das Wissen meiner Eltern“ hat sich ein lyrisches Ich in den Untiefen eines ewigen Kinderzimmers vergraben, in dem es ein Stillhalteabkommen mit den eigenen Empfindsamkeiten pflegt. Zauberberg. Splendid Isolation.

Es gibt aber auch den offensiven Brocken Noise, die Rückkehr des aus dem Ellenbogen rausgefingerten Gitarrensolos, das alles am liebsten im freien Fall revidieren möchte. Es gibt die Femmage an die Sache der Frau in Gestalt radikal-melancholischer Bekenntnisse zu lesbischen Melody-Core-Bands wie Team Dresch („obwohl, sie singen nicht für mich, und trotzdem finde ich sie super“). Es gibt den radiokompatiblen Fun-Punk- Knaller. Und wenn alles nicht hilft, gibt es die Möglichkeit, alles noch mal neu anzupacken – etwa indem man die eigenen Stücke mit den Mitteln der Gitarre auf Techno remixt. Die Ewigkeit gibt's ohnehin umsonst, und eine gute Kopfschmerztablette wäre besser. „Leider war das mit den Techno-Remixen nachher nicht so lustig, wie wir erst gedacht hatten“, findet Jan. Auch hier war wohl die Idee gut, aber die Welt noch nicht bereit.

„There's no time to lose, I heard her say“, sangen die Stones. „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“, singen Tocotronic – posthistorischer, am Schenkel der Ewigkeit klopfender Humor von unfreiwilligen jugendlichen Rockgreisen. Tragik ist ein ernster Witz: „Nach der verlorenen Zeit hab ich erst mal weniger gehaßt / Man findet ja nicht immer etwas, was ei'm grad nicht paßt / Nach der verlorenen Zeit ist es jetzt vielleicht zu spät / Man verpaßt ja doch nichts, wenn man nicht früh aufsteht.“

Gute Zeiten, schlechte Zeiten: Am Ende heiratet man entweder eine Familie, oder man schließt resignativ seinen Frieden mit den Idioten. „Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren / Das Spiel ist eigentlich nicht so schwer zu kapieren...“ Ping pong, ping pong, Null und Eins – digital ist besser: Tocotronic (benannt nach einem Gameboy-Vorläufer) ist der Musterfall einer Band, die vielleicht lieber Techno geworden wäre, sich lieber in die Regatta der freien Identitätsflotten hineinbegeben hätte, aber aus irgendwelchen Gründen – Mangel an Spielvermögen, biographische Reste, das dumme, dumme Ding, das man Privatleben nennt – an dieses altmodische Rock 'n' Roll-Ding gekettet bleibt, das sich weder wirklich „dekonstruieren“ noch an den Rand einer neuen Echtheit hochpitchen läßt.

Aber was soll man machen? „Letztendlich steht man halt doch nur auf der Bühne und spielt Gitarre und singt“ (Dirk). Auch wieder wahr. Gute Platte.

Tocotronic: „Wir kommen, um uns zu beschweren“ (L'Age D'Or/Motor Music)