Die Kantorsche Schule des Lebens

Das „Teatr Cricot 2“ des polnischen Theatermannes Tadeusz Kantor gibt es nicht mehr – dafür gastieren die „Aktorzy Teatru Cricot 2“ zum ersten Mal in Deutschland. Aber so ganz läßt sich sein Theater nicht reanimieren  ■ Von Sabine Seifert

Am 8. Dezember 1990 starb Tadeusz Kantor. „Heute ist mein Geburtstag“ hieß das Stück, an dem er gerade arbeitete. Es war fast fertig, und die Schauspieler seiner Truppe entschieden sich, es ohne ihn zur Uraufführung zu bringen. Ein Frevel für die einen – schließlich hatte Kantor als Zeremonienmeister immer mit auf der Bühne gesessen, und eine Vorstellung ohne ihn, diese magische, irgendwie auch erotische Erscheinung mit der schwarzen Jacke, dem schwarzen Hut und dem ewigen Schal, schien fast unvorstellbar. Den anderen aber war es Verpflichtung und Bedürfnis zugleich, sein theatralisches Vermächtnis der Öffentlichkeit zu übergeben. Kantors Truppe, die sich „Teatr Cricot 2“ nannte, ging mit „Heute ist mein Geburtstag“ noch einmal auf Welttournee.

Das „Teatr Cricot 2“ gibt es nicht mehr. Aber seine Akteure noch: das „Aktorzy Teatru Cricot 2“. Ihr Meister ist tot, und nun treten sie nicht nur an zu zeigen, daß sie noch da sind, sondern daß sie immer da waren. Andrzej Welminksi stieß schon als 17jähriger zu „Cricot 2“, wurde Kantor-Schüler an der Krakauer Kunstakademie und wirkte ab Mitte der 70er Jahre in sämtlichen Inszenierungen Kantors mit. Jetzt ist der 43jährige der Leiter von „Aktorzy Teatru Cricot 2“. „Am meisten macht uns der Vorwurf des Epigonentums zu schaffen“, sagt er. „Aber es ist dumm zu glauben, daß wir dasselbe machen wie früher.“ Nun legt der Name der Truppe eine Neuauflage des Alten ja irgendwie nahe. Und deshalb war es wohl Trotz und kam sicher auch Stolz ins Spiel, ihn – mit einer Nuance versehen – beizubehalten.

Die Neugründung der Gruppe sei einfach so gekommen: „Es war ein fließender Übergang. Zuerst kam die Entscheidung, Kantors letztes Stück zu vollenden, dann kam sein erster Todestag. Er haßte Trauerfeiern und ähnliche Veranstaltungen. Wir wollten etwas ganz anderes machen, Leute, vor allem seine Freunde, versammeln. Es nahm dann eine sehr theatralische Form an. Und diese Veranstaltung, die wir nur ein einziges Mal gezeigt haben, wurde der Ausgangspunkt für ,Manjacy – Maniacs or Their Master's Voice‘.“

„Manjacy“ ist eine Hommage an den verstorbenen Theaterleiter, eine ironische Verbeugung vor Kantor und eine selbstironische Betrachtung der zurückgelassenen Mitglieder der großen Theaterfamilie. Nach der Premiere im kleinen Theater „Rampe“ im Stuttgarter Zahnradbahnhof, wo gleich hinter dem Foyer abends die Triebwagen im Lokschuppen untergestellt werden, marschiert sie zur Premierenfeier auf: das Ehepaar Welminksi und der Maler Zbigniew Gostomski, der in Polen relativ bekannt ist, insgesamt zwölf Personen, mehr Männer als Frauen, mehr Ältere als Jüngere (aber doch – es gibt zwei neue junge Ensemblemitglieder). Am beeindruckensten ist die Verwandlung der alten Frau mit den zerzausten schlohweißen Haaren, die eben noch grimassierend eine verrückte Greisin gespielt hat. Sie hat ihr Haar zurückgekämmt, mit lässiger Eleganz hinten hochgesteckt und sitzt am gedeckten Tisch wie eine große alte Dame des polnischen Theaters.

Prolog: Auf der Bühne sitzt mit dem Rücken zum Publikum ein Mann auf einem Stuhl. Schwarze Jacke, schwarzer Hut. Später dreht er sich um, grinst irgendwie blöd und guckt in den Spiegel, den er auf dem Schoß hält. Er ist es nicht, dieses Mal nicht. Ein anderer Mann in einer ärmlichen schwarzen Anzugjacke – es ist ausgerechnet Welminski – sagt: „Mehr wird hier nicht passieren.“ Mit Genugtuung wiederholt der Regisseur diesen Satz in unserem Gespräch – ein Spielverderber, der die Erwartungshaltung des Publikums wie auch die eigene Abhängigkeit vom großen Meister aufs Korn nimmt.

Wie gebannt starren die Schauspieler auf die große Schachtel mit ihren Pappwänden, die in der Bühnenmitte steht. Es gibt ein Guckloch wie bei einer Fotokamera, das aber, so folgern wir, nichts aus der Dunkelkammer des Lebens preisgibt. „Möblierung des Raums der Vorstellung“ nannte Kantor früher einmal sein theatralisches Verfahren. Die Pappwände haben kleine Löcher, aus denen sich Seile, Schnüre ziehen lassen. Fieberhaft versuchen die Schauspieler, an ihnen zu ziehen, dem Karton mehr zu entreißen, ihn zum Öffnen zu zwingen. In dem Moment, als er sich öffnet, gibt er nur ein schäbiges Interieur mit dem gilblichen Charme einer Klinikküche preis. Die alte Frau ist gerade dabei, ihn zu desinfizieren.

Die Schauspieler – ein verwirrtes Häuflein Menschen. Die Black box – ein Phantasiegarten, der, immer wenn man ihn betritt, gerade entleert, abgeräumt, entmüllt worden zu sein scheint. Aber kaum hat man das Tor wieder hinter sich zugemacht, scheinen die phantastischsten Gebilde zu wuchern. Man wird ihrer einfach nicht habhaft: ein Schimären-, ein Zauberwald. Seltsame Geschichten passieren, die Menschen scheinen wie von unsichtbaren Fäden bewegt, von der Musik gesteuert, von Schreckensphantasien heimgeholt. Die Spannung zu lösen, die Abnabelung einzuleiten gelingt schlußendlich nur mit Gewalt: Das Ding fliegt in die Luft, alle sind tot und gleich bereit weiterzumachen. Entleert, gereinigt, ein mechanisches Orchester gespenstischer Puppen.

Die Kantorsche Schule des Lebens ist bei „Manjacy“ ohne weiteres zu erkennen. „Die Pappschachtel – ein Modell der Welt, des Theaters“, sagt Welminski. „Vielleicht etwas naiv, aber allgemeingültig.“ Daß etwas da drinnen, etwas dahinter ist, daran arbeiten sich die Schauspieler ab. Ähnlich wie bei Kantors Inszenierungen gibt es jedoch jenseits dieser Botschaft ein hochtheoretisches und komplexes System voller literarischer Anspielungen.

Vieles erinnert an Kantors Inszenierungen: die Ärmlichkeit der Bühnenwelt, die für sich stehenden und agierenden Objekte (eine Klingelanlage), der besondere Einsatz von Verpackungsmaterial (Stroh), die eindringliche Musik (Mussorgski und Prokofjew), das groteske Spiel, die übersteigerte Bedeutung der Gestik. Die Inszenierung stammt noch aus dem Jahr 1993 und ist ein respektabler Versuch der Abnabelung und Neuorientierung. Konservierung war bei allem Vergangenheitsbezug, der fast obsessiven Erinnerungs- und Trauerarbeit, Kantors Sache nicht. „Viele Theatergruppen haben Kantors formale Ästhetik auf eher oberflächliche Weise genutzt“, meint Welminski. „Sie fragten nicht, woher sie kam.“

Kantor kam von der bildenden Kunst, und diese Verwurzelung prägte den Zuschnitt seiner Theatertheorie: die antiillusionistische Gesamtkonzeption, die die literarische Tradition des Theaters leugnet; das Collageprinzip, das er aufs Theater übertragen hat; die besondere Beziehung zwischen Mensch und Gegenstand, ihr Verwachsen miteinander; das parodistische Chargieren oder die Verweigerung des Spielens durch die Schauspieler; die Wiederholungszwänge und Automatismen in den Bewegungsabläufen und Sprachgebärden. Kantors Schriften, meist Einleitungen, Kommentare, Notizen zu seinen Stücken, liegen bis heute nicht gesammelt auf deutsch vor, eine Biographie des 1915 geborenen Kantor, der so unablässig seine eigene Herkunft ins Spiel gebracht hat, läßt weiterhin auf sich warten. (Immerhin hat der kleine Tübinger Francke-Verlag Ende letzten Jahres ein Buch vorgelegt, das den Stand der Kantor-Forschung im In- und Ausland dokumentiert.)

Die „Aktorzy Teatru Cricot 2“ gehören größtenteils einer anderen Generation an als der vom Krieg und dem christlich-jüdischen Drama polnischer Prägung gezeichnete Kantor. Ideen lassen sich weiterentwickeln, Kantors Theater jedoch läßt sich nicht reanimieren. Das war einmal und kehrt nie wieder dorthin zurück. Auf nach „Ameryka“ – mit ihrer neuesten Produktion, die sie Ende 1995 aus der Taufe gehoben haben, betreten Andrzej Welminski und die Seinen auch künstlerisch Neuland.

„America or Don't look back“ ist als Gastspiel am 28. 3., 30. und 31. 3. im Theater Rampe in Stuttgart zu sehen. Vom 4.-13. 4. führen „Aktorzy Teatru Cricot 2“ einen Workshop durch, für den noch Plätze frei sind. Informationen: (0711) 640 10 27.

Jan Klossowicz: „Tadeusz Kantors Theater“, herausgegeben von Harald Xander, Francke-Verlag, Tübingen 1995