Sex-Diskurs

■ Schauspielhaus: Castorf inszeniert Jelineks „Raststätte“ frei ab 18 J.

Es geht ums Vögeln. Dezenter läßt es sich – ehrlich – nicht formulieren. Es geht darum, daß zwei spießige Frauen sich über eine Zeitungsannonce mit zwei Herren auf einer Raststätte zum GV verabreden, hinterher aber feststellen müssen, beim angestrebten Seitensprung wieder nur an die Ehemänner geraten zu sein. Das Stück Raststätte oder sie machens alle handelt also vom Geschlechtlichen (handfest etwa eine Viertelstunde) und (weitere eindreiviertel Stunden) vom Reden über das Geschlechtliche, vom Sex-Diskurs („Nicht nur das Wild ist wild“). Oder in der Autorin Elfriede Jelineks eigenen Worten: Es geht um „Spaß und vögeln, Spaß und vögeln...“

„Ich hoffe auf eine gewisse Respektlosigkeit“, ließ die Österreicherin im Vorfeld der Inszenierung wissen, die am Donnerstag am Hamburger Schauspielhaus Premiere hatte. Diese Erwartungshaltung hat der Regisseur Frank Castorf, man kann es nicht anders sagen, voll und ganz erfüllt. Die Raststätte, sie ist ein Tollhaus, bevölkert von Kleinbürger-Karikaturen aller Ekligkeitsschattierungen. Haschee wird kurzerhand durch das Vorkauen von Bockwürsten hergestellt. Der Text wird ebenso verhackstückt, und zwar bis zu einem Punkt, an dem die Figuren auf der Bühne gar keine Lust mehr haben, ihn zu sprechen; sie sitzen dann relativ entspannt herum und blinzeln ins Publikum. Auch vor der Autorin selbst macht Castorf nicht halt: Am Schluß fährt eine Puppe auf die Bühne, die aus Brüsten und Scham leuchtet und das Gesicht der Jelinek trägt; und ihre belehrenden Regieanweisungen („Von Pornos inspirieren lassen!“) werden ironisierend aufgesagt.

Das Premierenpublikum nahm die Provokation dankbar an. Rufe wie „Tüttelkram“ erschollen, und einige Frauen fanden ganz und gar nicht lustig, daß auf einem Videoschirm Fellatioszenen zu sehen waren (weshalb auf den Eintrittskarten der Hinweis zu finden ist: „frei ab 18 J.“). Die anderen Zuschauer freuten sich, daß sich da welche tatsächlich provozieren ließen, und blickten gutgelaunt auf die rasante und dichte Fülle immer wieder neuer Einfälle. Manchem mag auch dieser Gedanke gekommen sein: Castorf will primär gar nicht provozieren, sondern zeigt in den ganzen Eklig- und Merkwürdigkeiten die pure Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Das wäre wohl die größte Provokation. Dirk Knipphals