Schwarzweißkonturen von edlen Schurken

„Multimedia“, Premieren, auch etwas Nostalgie beim Kurt-Weill-Fest in Dessau. Pendler aus Berlin mischten sich unters Stammpublikum. Ein Ereignis für die ganze Familie: Wegen oder trotz DDR schätzt man seinen Weill  ■ Von Sabine Zurmühl

„Am besten, man denkt gar nicht daran“, beruhigt der Mann seine Frau mit Blick auf den Kronleuchter über ihnen. Sie: „Ach, der hängt jetzt schon so lange, der wird schon nicht runterkommen ...“

Es ist bis auf den letzten Platz voll im Kulturpalast in Bitterfeld, in dem das Kurt-Weill-Fest die „Dreigroschenoper“ bietet. Seit nachmittags um drei wartet ein hauptsächlich älteres Publikum überpünktlich auf die Vorstellung, bei Rotkäppchen-Sekt oder Bier – Kaffee und Mineral ist nicht, die Kantine wird renoviert. Das Prächtigste am Kulturpalast in Bitterfeld ist sein Name, er liegt als inzwischen renovierter Scheunenkasten an der Bitterfelder Hauptstraße, zugig, riesig – die kulturpolitischen Konferenzen zum „Bitterfelder Weg“ waren früher hier und die Oktober-Klubs, und demnächst kommt Ulla Meinecke.

Heute kommen die Besucherinnen im langen Kleid, Kinder auch mit Samtanzug und Spitzenkrägelchen, wegen Gisela May. Gisela May, mit bewährtem schwarzen Anzug und Schlips, Schüttelpony und Zigarettenspitze, führt als Erzählerin durch eine als „konzertant“ angekündigte Aufführung. Dahinter verbirgt sich, daß die Songs der „Dreigroschenoper“ aneinandergereiht werden, mit kleinen verbindenden Texten der May versehen. Diese Brechtschen Bühnenanweisungen als „bislang nie aufgeführtes Libretto“ in den Veranstaltungsankündigungen hochzustilisieren, mag zwar korrekt gewesen sein, aber doch ein bissel großmäulig.

Die „Dreigroschenoper“ jedenfalls ist Weills populärstes und erfolgreichstes Stück. Das Weill-Ensemble Dessau musiziert sehr einfühlsam und frech, zugleich zügig, fein. Die Darsteller im Kulturpalast Bitterfeld kommen aus Amerika, sie singen die Originaltexte in sehr akzentgeprägtem Deutsch. Es ist das „Piccolo Theatro dell' Opera“ aus New York, bestehend aus jungen Opernsängern. Das heißt, sie können gut singen, sind aber ziemlich gleichgültig gegenüber dem Gegenstand ihrer Kunst. Die Gretchenfrage der Brecht- Weillschen Aufführungen nach schauspielerischer Identifizierung und allerhöchstem raffinierten musikalischen Niveau läßt meistens eine der beiden Seiten hinken. Hier hinken die Inhalte, werden Staffage.

Wer heute die „Dreigroschenoper“ anfaßt, diese Dreißiger-Jahre-Schnulze vom tollen Ganoven und der süßen Nutte, muß einen Zugang aus heutiger Zeit entwickeln. Diese Sehnsucht, in der Unterwelt tobe das wirkliche Leben, dieses unsägliche Frauenbild mit den Federboas und den schwarzen Strümpfen, der Verruchtheit für Geld und dem Wimpernklimpern und dem Busenschütteln – das alles müßte heute um eine aufrichtigere Lösung ringen. So jedenfalls mag sich die Aufführung auf ihren konzertanten Charakter berufen, blieb aber in ihrer Kostümgestaltung und Choreographie die Seele des Stückes schuldig.

Dramaturgisch hatte diese Aufführung sich zusätzlich einen Doppelwhopper-Stopper eingebaut, indem Songs und Zwischentexte sich jeweils prompt und unerbittlich folgten, fast ununterbrochen. Wer im Publikum für einen Song klatschen wollte, hätte die verehrte Frau May unterbrechen müssen, wer auf die Effekte der Texte reagiert hätte, patzte mit dem Klatschen in die Musik. Also machte sich trotz allerhöchster Aufmerksamkeit eine Art Lähmung im Saale breit, die in seltsamem Gegensatz zu dem grellen und auch einpeitscherischen Geschehen auf der Bühne stand. Am Schluß klatschten die Leute so befreit, als wollten sie das Ereignis jetzt beginnen lassen.

Die übrigen Veranstaltungen des 4. Weill-Festes fanden in Dessau statt. Als gewissermaßen Großereignis: die Premiere der Weill-Oper „Der Silbersee“ im Anhaltischen Theater, einem Pompprachtbau von 1936. Es ist aufs Feinste renoviert, riesig, ein bißchen verloren an seinem großen Platz, an dem sich keine Menschenseele zeigt, es sei denn, jemand läßt sich im Taxi ins seitlich gelegene „Steigenberger“ fahren.

Was aber drinnen gezeigt wird, unter der Regie von Helmut Straßburger und Ernstgeorg Hering, ist wirklich eine Entdeckung: „Der Silbersee“ ist eine Art mystische Oper aus dem Arbeitslosenmilieu. Ein Polizist bereut seine Härte und freundet sich mit dem Mundräuber an – durch eine Intrige sind beide schließlich trotz eines Lottogewinns so arm als wie zuvor.

Mutig für das Theater: Es sind pro Vorstellung wahrscheinlich etwa so viele Menschen als Macher wie als Publikum, denn die Bühne wird zum Zuschauerraum gemacht, es sitzen etwa 200 Menschen mit dem Rücken zur Brandmauer und dem Blick in den leeren Zuschauerraum. Die Musik kommt aus dem Orchestergraben mal umgekehrt, wir blicken dem Dirigenten ins Gesicht.

Die Spannung bezieht das Stück aus seiner merkwürdigen Mischung von Agitation und Traummärchen. Der Lotterieagent, der von der „Krone des Gewinns, Zins und Zinseszins“ singt und dabei ausschaut wie der „Mammon“ im „Jedermann“, dieser goldene Glitzergeist aus der Kiste.

Oder die Waise Fennimore (wunderbar gesungen von Stefanie Wüst), die einerseits das Leben als arme Verwandte beklagt, gleichzeitig aber in ihrer Geschichte von „Cäsars Tod“ politische Lehren erteilt: „Er verfolgte seine frechen Ziele und sah schon als Herrn der Römer sich...“ In der Uraufführung 1933 wurden diese Passagen zu Recht als Anspielung auf Hitler verstanden – das Stück wurde sehr schnell abgesetzt, trotz riesigen Erfolgs. Oder das Paar aus der herrschenden Klasse, Frau von Luber und Baron Laur, die ihr „Schlaraffenland“-Duett von der alten Ordnung singen, die sich letztlich immer wieder durchsetzen, „die kleine Störung wandelt nichts, sie schwingt sich aus ...“

Die Weillsche Musik in ihrem Reichtum, den Walzer- und Polkamotiven, den abgebrochenen Rhythmen, den sehr süßen, solistischen, leisen Passagen, ist hervorragend interpretiert von der Anhaltischen Philharmonie Dessau.

Es bleibt ein Schmerz, diese halb vergessenen oder unterschätzten Werke zu erleben. Sie stimmen nicht mehr in ihrer politischen Emphase, treffen heute in ihrer Aufklärungseuphorie auf skeptische und enttäuschte Gemüter, pflegen eine Pseudonaivität und klagen Charaktermasken an, die heute politisch nichts mehr auslösen. Die scharfen Schwarzweißkonturen vom edlen Schurken und dem zynischen Charakterschwein da oben schienen damals eine geniale Analyse. An den anderen gerichtet, den Arbeiter, der ins Theater gehen sollte, den bildungshungrigen Proletarier. Das rührt einen heute, und war doch vor ja nun auch nicht methusalemischen Zeiten verteidigte Hoffnungswahrheit. Die Klassenschranken sind inzwischen so aufgeweicht und unscharf, die Hoffnungskonzepte so ausgedörrt und schnellem Zynismus preisgegeben – da wird die alte Erklärungskultur ganz blaß.

Kommt hinzu, daß zumindest Weill in seinen Arbeiten dieser scheinbaren Plakativität und Schlichtheit nie aufsaß. Er war ein hochartifizieller, ironischer und reflektierter Musiker, der hinter der gern „schmissig“ genannten Songmusik oder den agitatorischen Werken die Parodien und Bezüge zur klassischen Opernliteratur liebte, die Rückgriffe auf seine jüdischen Musiktraditionen, seine leisen und komplizierten kammermusikalischen Töne...

Vom Anhaltischen Theater um die Ecke, vorbei am Museum für Naturkunde und Vorgeschichte mit seiner Ausstellung über „Mammute, Wollnashörner und Höhlenbären“, einbahnstraßenmäßig dreimal links, öffnet sich das Rathausforum, das Karstadt, brandnew, und einen kleinen Türken und einen großen Hamburger Freßtempel und ein renoviertes Rathaus mit Fahrradständern umschließt. Hinten herum, auf dem Weg zur Marienkirche, hat ein Galerie-Café ein schönes Buffet aufgebaut. Ist das hier eine geschlossene Gesellschaft? Nein, kommen Sie doch herein, hier ist jeder willkommen. Viele ältere Gesichter, vorsichtige Jugendliche: Eine Ausstellungseröffnung über Ravensbrück, etliche alte Frauen, frühere Häftlinge sind gekommen. Von hier blickt man schon auf den Bauzaun um die Marienkirche, Dessaus ältester Kirche. In deren abgeschlagenen nackten Klinkerwänden, deren Schönheit zumindest ein protestantisches Herz sehr erfreut, fand das teuerste Ereignis des Weill-Festes statt: die Aufführung der Schuloper „Down in the Valley“.

In der nahegelegenen Berufsbildenden Schule I ziehen sich die Jungen und Mädchen aus den Dessauer Gymnasien auf den Klos um: helle Einheitskleidung, graue Gesichtsschminke. Sie werden später hinter einem zarten Gazevorhang stehen, im harten Schatten der gotischen Apsis. Die Kammersymphonie Berlin begleitete die studentischen Solisten und den Chor mit Präzision und Kräftigkeit. Die (englischsprachige) Geschichte von einem jungen Paar, das sich nicht lieben soll, setzt musikalisch viele Bezüge zu amerikanischen Folksongs („Down in the Valley“ ist auch so einer, und zwar ein Ohrwurm). Das Ganze war als „multimediales Ereignis“ aufgezogen, was konkret bedeutete, daß auf einer hochgespannten Videowand Film- und Bildzitate erschienen – mit allen wichtigen Küssen der Filmgeschichte von „Vom Winde verweht“ bis „Casablanca“, von Westernreminiszenzen bis zum einsamen Holzhaus in der Weite der Prairie.

Natürlich begeben sich in einer solchen Kombination, in der die Bilder in einem eigenen Rhythmus geschnitten sind, mehrere Ästhetiken miteinander in den Clinch. Die Wirkung der Weillschen Musik wurde dadurch eher aufgehoben oder zumindest entkräftet, weil – wir wissen es alle – das Bild siegt.

„Down in the Valley“ war dennoch eine seltene Mischung aus professioneller Weitläufigkeit und Bindung an die Region, die Oberschüler der Stadt, die Eltern und Freunde und das Orchester aus Berlin, die jungen SängerInnen, die sich mit Publikum erproben können. – Und die Resonanz gab den Veranstaltern des Kurt-Weill- Festes wohl recht: Vom letzten auf dieses Jahr sind die Plätze von 4.000 auf fast 7.000 gestiegen, die Auslastung ist deutlich besser – die „klassischen Pendler“ aus Berlin, Halle und Leipzig waren ebenso da wie das Dessauer Stammpublikum, das wegen oder trotz DDR wohl seinen Weill schätzt.

Dessau wird im Jahr 2000 eine Außenstelle der Expo 2000 sein, und: Weills 100. Geburtstag steht an. Zu entdecken gibt es noch genug. Es ist leichter und schwieriger, als du denkst.