Das große Jungensding

Endlich! Der Roman über die männliche Liebe zur Schallplatte ist da. In „High Fidelity“ verrät Nick Hornby, was das Sammeln runder Scheiben mit konkreter Lebenshilfe zu tun hat. Und warum Frauen leider draußen bleiben müssen  ■ Von Thomas Groß

500 müssen es schon sein. Wessen Plattensammlung stückzahlmäßig unter diesem Mindestlimit bleibt, sollte es gleich gar nicht erst versuchen – er wird ja doch nicht mitreden können bei der Erörterung letzter Fragen. Etwa von wem die besten Stücke über den Tod in der Rockmusik sind. Oder wer nach der musikalischen Revolution als erster erschossen gehört.

Findet jedenfalls Rob Fleming, Mitte dreißig, Besitzer eines kleinen Plattenladens in Nordlondon – und hat er nicht ein gottverdammtes Recht dazu? Seit er denken kann, ist Popmusik ein Teil seines Lebens. Von ihr bezieht er seine geheimen Einflüsterungen, seine stillen Reserven, sein ganzes Gefühl der Nonkonformität: Rock 'n' Roll, I gave you all the best years of my life... sogar das College hat er deswegen geschmissen. Wer so weit gegangen ist, kann es nicht einfach mehr hinnehmen, wenn leichtsinnige Sozialpartner, beispielsweise Frauen, den Unterschied zwischen Sting und Solomon Burke für nicht so gravierend halten. Sting und Solomon Burke! „Verstehst du nicht“, raunt er drohend, „das ist alles, woraus ich bestehe.“

Ein Roman über die Macht von Schallplatten über Lebensentwürfe – das war schon länger fällig, angedacht in Plattenkritiken, vorweggenommen in gelehrten Betrachtungen über den Stand der Subjektivität nach 40 Jahren Prägung durch popkulturelle Phänomene.

Geschrieben hat das Buch Nick Hornby, ein 37jähriger Engländer und Ex-Lehrer, der seine Landsleute bereits mit einem Werk über Fußball begeistert hat – was nur als Arbeit an ein und derselben Grundobsession zu verstehen ist: Wo „Fever Pitch“ (1992 bei Gollancz, demnächst auf deutsch) das Fantum in seiner ballverliebten Variante zu fassen bekommt, ist „High Fidelity“ eine romaneske Variation über das andere große Jungensding: die Liebe zu bepreßten runden Scheiben. Daß „Championship Vynil“, Robs Plattenladen, noch nicht pleite ist, liegt nämlich allein an der Frequentierung durch „junge Männer, und nur junge Männer, mit John-Lennon- Brillen, Lederjacken und den Armen voll mit quadratischen Einkaufstüten“. Es sind Typen, die unverhältnismäßig viel Zeit darauf verwenden, nach beinahe nicht existenten Japan-Importen oder „Frank-Zappa-LPs mit der Aufschrift ,ORIGINAL, KEINE NACHPRESSUNG‘ zu suchen. Eigentlich dürften die gar nicht frei rumlaufen.“

Eigentlich tun sie das aber auch gar nicht. „High Fidelity“ ist ein Roman, der die äußere Welt in fast gänzlichem Stillstand beläßt. Man kann Robs Laden als eine Art Männerpension verstehen, vergleichbar dem ANO-Teppichladen, den Eckhard Henscheid hierzulande in seiner „Trilogie des fortlaufenden Schwachsinns“ beschrieb. Was an Handlung aufkommt, kulminiert in der Schilderung extrem ritualisierter Formen des Sozialkontakts, wie Rob sie mit seinen beiden shop assistants Barry und Dick unterhält. Sie hören mitgebrachte Tapes, kochen Kaffee, diskutieren die Vor- und Nachteile von Stücken mit Titeln wie „Little Latin Lupe Lu“. Vor allem aber vertreiben sie sich ihre Zeit mit der Erstellung von Listen: die Top five der besten Filme aller Zeiten, die fünf zornigsten Elvis- Costello-Songs – kein Lieblingsthema, das sich nicht in Fünfer- und Zehnerreihen ausdrücken ließe.

Das Prinzip Hitparade ist ein ideales Ordnungssystem, großer pueriler Weltorganisationszauber – eine Junggesellenmaschine, die das imaginäre Verhältnis zu all den Fährnissen da draußen regelt. Konsequent zu Ende gedacht, erspart es einem (vielleicht in Form eines kleinen Vorab-Formulars?) sogar, sich in Frauen zu verlieben, die sich nachher als Wesen mit abartigen Neigungen herausstellen – womöglich Julio-Iglesias-Fans sind; oder zu denen gehören, die zum Fadeout von „Brown Sugar“ enthusiasmiert „Huuuh!“ schreien.

Einziger Nachteil: Es funktioniert in der Praxis nicht immer. Als seine Freundin Laura, eine erfolgreiche Rechtsanwältin, ihn entnervt verläßt, fällt Rob zunächst nur ein, seine Plattensammlung neu zu sortieren. Von A wie Addicts bis Z wie Zappa will alles noch einmal nachempfunden sein: die unfreiwillig zölibatären Phasen, in denen immer wieder Marvin Gayes „Sexual Healing“ zum Einsatz kam, die Bruce-Springsteen-Jahre; das kurze Punkbeben Ende der Siebziger, die Lost Weekends mit Neil Young („Only Love Can Break Your Heart“!), die frühen Gespräche mit Gleichgesinnten über Ziggy Stardust und seine Käfer vom Mars. Ein Anflug von Stringenz kommt so in den etwas wirren Plot des Lebens: „Auf diese Weise hoffe ich, meine Autobiographie schreiben zu können, ohne auch nur einen Stift in die Hand nehmen zu müssen ...“

Doch so exakt die Schule des Herzens sich auch in der Sammlung abbildet, so sehr sie ein Quell des Selbstgenusses und mannhafter Erbauung ist – bereits an den Top five der real existierenden Liebeskränkungen wird sie zunichte. The first cut is the deepest, gewiß, das erklärt aber nicht, wieso es damals mit Alison Ashworth und Penny Hardwick so verdammt schieflief. Und selbst in der Gegenwart: An der Frage, welche Musik im Autokassettenrekorder gespielt wird, diesem „vielleicht bittersten Kampf zwischen Mann und Frau“, von Rob und Laura ausgetragen über die kulturelle Wertigkeit von Simply-Red-Songs („Einer ist unverzeihlich. Zwei sind ein Kriegsverbrechen“), erweist sich nur immer wieder die Unvereinbarkeit männlich-sentimentalischer und weiblich-pragmatischer Polung.

Rob muß erst eine Reihe von Bewährungssituationen durchlaufen, muß Abende in Gesellschaft von braven Leuten mit extrem toxischen Plattenkollektionen bestehen, auch der Zufall muß dem Helden (Deus ex machina!) noch eine Lektion erteilen, bevor ihm dämmert: Die Schallplattensammlung hat die Welt nur verschieden erfühlt, es kömmt aber darauf an, sie auch kommunikativ zu gestalten.

Zugegebenermaßen schwebt Hornbys Roman an solchen Stellen ein wenig in der Gefahr, als heitere Karikatur männlicher „Furcht vor Nähe“ durchzugehen – was nicht ganz falsch ist, aber bei weitem nicht erschöpfend. „High Fidelity“ hat Züge einer éducation sentimentale, und gerade in den Dialogen entfaltet das Werk extrem humoristische Britpop-Qualitäten, doch sein tieferer Bedeutungsgehalt ist weniger psychologischer als philosophischer Natur. „High Fidelity“ (im übrigen supergut übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann) handelt vom Glanz und Elend einer Hochkultur. Rob, Dick und Barry verstehen in ihren internen Systemen alles, sie sind späte Connaisseure eines extrem ausdifferenzierten Gruppenverhaltensmodells, das nur – bedauerlicher- oder glücklicherweise – keinen echten Zugriff mehr auf die externen Systeme der Welterschließung erlaubt. Es ist und bleibt das Jungensspiel – pikaresk, rituell gebunden, Ritter der Kokosnuß.

Womit sich der Kreis zum Fußball hin schließt, der ja auch nur noch das Traummodell des männlichen Volksbegehrens abgibt. Inszenierte Revolutionen in der Fankurve des Utopischen, Freistilübungen extrem informierter, im Gemeinschaftserlebnis verschwindender, womöglich sozial oder erotisch gefährdeter Partikularidentitäten.

Aber immerhin noch Fankultur. Sein schönstes Erlebnis, hat Nick Hornby, der in England längst ein Star ist, der Reporterin des Guardian gestanden, sei gewesen, als ein ganz normaler Typ im „Kentucky Fried Chicken“, Zweigstelle Finsbury Park, in der Schlange sich plötzlich umdrehte. „Fucking great book, Nick“, hat er dem errötenden Autor ins Gesicht gesagt. Nichts hinzuzufügen.

Nick Hornby: „High Fidelity“. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kiepenheuer & Witsch 1996, 336 Seiten, 39,80 DM