■ Berlinale-Anthropologie
: Rumtreiben (II)

... Hippies bilden das Publikum der Berlinale, respektive Gutmenschen, die neueste Stufe in der Evolution des Hippie; Leute, die vom Kino delectare et prodesse erwarten, vor allem prodesse. Dieser drahtige Graubart, die Umhängetasche aus Leder (statt Plaste) und mit Reißverschluß (statt Klettverschluß), nimmt im Royal-Palast im Geschwindschritt die Stufen nach oben und verachtet die Rolltreppenfahrer rechts und links. („Sogar abwärts! Die Perfektion der Technik macht aus den modernen Menschen faule Säcke!“)

Prodesse, daß das Kino nützen möge neben dem Erfreuen, heißt bei dem drahtigen Graubart: nützen im Kampf gegen Unvernunft, Vorurteil, Inhumanität. Deshalb hat er sich im Programm ausgerechnet diesen Film angeguckt, den N. nach der Pressekonferenz des Regisseurs als „Holocaust light“ verdächtigen mußte. Eigentlich geht der Gutmensch nicht ins Kino, vielmehr inspiziert er ein Lehrmittel für die Massen. Er erfreut sich daran, wie der Film ihre Vorurteile, ihre Unvernunft, ihre Unvernunft attackiert („dem Durchschnittsbürger muß doch immer wieder gezeigt werden...“) – seine eigenen Vorurteile tummeln sich da, von ihm unbemerkt, wie das bei Vorurteilen geht, auf einem ganz anderen Feld.

Klar, ich habe Vorurteile gegen Hippies, Gutmenschen. So wende ich mich liebevoll dieser alten Dame im teuren Pelzmantel zu, das Gesicht wüst zerfurcht und sorgfältig geschminkt, respektgebietend kostbar leuchten die Klunkern. Was hat sie hier verloren unter all den Jungmenschen, die seit langen Jahren das angestammte Kinopublikum bilden?

Die schnieke alte Dame ist ein Time-bandit, sie eröffnet einen Durchblick in die fünfziger Jahre. Damals, als sie jung war und der Göttergatte seine Kanzlei aufbaute, begann sie die Berlinale als gesellschaftliches Ereignis zu schätzen. Hier sah man einmal im Jahr die große Welt, von der (West-)Berlin so schmerzlich abgeschnitten war, „wird ja sooo provinziell!“ – Die schnieke alte Dame verkörpert ein Westberlin, das größtenteils aus Erinnerungen besteht; nur in Resten zum Anfassen: kürzlich zeigte ich dem Kollegen Kröher die Bar in der Galerie Bremer (Fasanenstraße), mit ihrem schönen alten schwarzen Keeper und den sattroten Polstern – im Kempinski aber nix mehr, er entdeckte bloß Teile der stern-Redaktion.

In der Gestalt der schnieken alten Dame (dieser honigfarben getönte, schonend aufgeföhnte Haarputz!), will ich sagen, besuchen die historischen Berlinalien die gegenwärtige. Achten Sie mal darauf. Natürlich gehört auch der mühsame alte Herr im antiken Three-piece-suit dazu, der sich von seinem Enkel begleiten läßt, dem er die Kinoleidenschaft vererbt hat. Jenseits von Vater & Mutter verstehen die Generationen einander ja prima. – Dies historische Publikum versammelt sich verständlicherweise vor allem bei den Retrospektiven von Kazan, Lemmon, Wyler.

Aber in welche Schublade soll ich den graumelierten Enddreißiger packen, dessen Dreitagebart eklig aus dem zarten Doppelkinn hervorsticht, das sich beim Kopfneigen bildet? Einer dieser hilflosen Leser, die immer wieder im Programm herumstochern müssen. („Was entgeht mir gerade?“) Das stachelige Doppelkinn vermählt sich mit den Schuhen, auf die mein Blick dann fällt, lackglänzende Kloben in sattem Gelb, denen vorn eine rote Kappe aufsitzt, als bluteten sie. Ein Werbefuzzi? Dem Zeitgeist auf den Fersen?

Er vergesellschaftet sich im Delphi zwanglos mit dem schwergesichtigen Feldherrn, der die Frau am Buchtisch leidend-stolz wissen ließ, „heute ist der Tiefpunkt!“ Des Festivals? dachte ich hoffnungsfroh, wird er's elaborieren? Daß mit Daniel Schmids „The Written Face“ (o.ä.) das europäische Kino endgültig abdankt? Was ich hier weitererzählen könnte?

Aber es ging bloß um seine Grippe. Mit der Buchhändlerin freilich sind wir wieder im Lager der Hippies gelandet, vergrämt- gekränkt seit den Adoleszenzgedichten, to be with the books is all we ask. Die Filmbuchhändlerin ähnelt mehr der Buchbuchhändlerin als dem Werbefuzzi, der sich mittels Kino über den Zeitgeist informiert...

Dabei wollte ich längst die Schlußpointe ansteuern: ins Kino geht Die Menschheit. Der Sozialpädagoge und der Werbefuzzi, die Wilmersdorfer Witwe und der alternde Leder-Jeans- Typ mit seinem Lover, liebe GymnasiastInnen mit oder ohne ihre GymnasiallehrerInnen – das Kino ist die Ökumene, catholic, wie man auf englisch dazu sagt. Der Schriftsteller David Lodge hat in seinem ersten Roman „The Picturegoers“ (1960) der Religionsgeschichte die Richtung vorgegeben, from Mother Church to Mother Cinema.

Bloß die Paris Bar, in die geh' ich nicht, nein. Da sitzt der Feind. Da palavert vermutlich seit Stunden Peter Stein mit Oliver Stone über eine 365-Tage- Aufführung von Heiner Müllers Gesamtwerk, mit Robert de Niro als Stalin. Michael Rutschky