Der Schock saß tief: 1,2 Millionen Menschen ohne Beschäftigung. Das war 1975. Heute sind 4,16 Millionen Arbeitslose registriert. Für Betroffene damals wie heute eine traumatische Erfahrung. Dennoch lösen sie keinen Sturm der Entrüstung aus

Der Schock saß tief: 1,2 Millionen Menschen ohne Beschäftigung. Das war 1975. Heute sind 4,16 Millionen Arbeitslose registriert. Für Betroffene damals wie heute eine traumatische Erfahrung. Dennoch lösen sie keinen Sturm der Entrüstung aus

Alles eine Frage der Gewöhnung ...

Die Experten sind sich einig. „Schwieriger denn je zuvor“ sei die Lage. „Eine bislang nicht erlebte Ungewißheit“ prognostizieren die Beamten der Bundesanstalt für Arbeit. Ihren Berichten über die Lage des Arbeitsmarkts drücken sie den Stempel „vertraulich“ auf. Das verheißt nichts Gutes: 332.00 Bundesbürger sind ohne Job – 1,5 Prozent aller abhängig Beschäftigten. Deutschland steht am Abgrund: „So knüppeldick war's noch nie“, tönt Der Spiegel.

Im November 1973 konnten solche Zahlen noch schwere Irritationen auslösen. Heute, über 22 Jahre später, würde eine solche Statistik für euphorische Jubelumzüge am Reichstag sorgen. Die Zeiten ändern sich – die Gründe für die Arbeitslosigkeit auch. Damals ließen Ölkrise und Nachfragerückgang die Wirtschaft ins Trudeln geraten. Die Experten rieten, den Appetit der Deutschen auf Konsum und Investition durch Staatsaufträge und billiges Kreditgeld zu stimulieren. Helmut Schmidt empfahl, sich damit abzufinden, nicht mehr ein „Recht auf seinen Arbeitsplatz“ zu haben, sondern nur einen Anspruch „auf einen Arbeitsplatz“.

Wenig später aber, im Februar 1975, schlägt der Spiegel erneut Alarm. „Stürzt die SPD über knappes Geld und hohe Arbeitslosenzahlen?“, fragt das Blatt. Längst ist die magische Grenze überschritten: 1,2 Millionen gänzlich ohne Arbeit, 900.000 auf Kurzarbeit. „Wie kann das Land Arbeitslosenzahlen verkraften, an die es nicht gewöhnt ist?“, fragt Heinz Kühn. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen fürchtet, diese „Horrordaten“ könnten der SPD noch die Wahlen vermaledeien. Helmut Schmidt wird zu dem abgestempelt, was Helmut Kohl dann wird: Arbeitslosenkanzler.

Es bleibt ruhig im Land. Alle glauben an einen Fehler, begangen im Jahr zuvor. 1974 haben Unternehmer und Gewerkschaften noch einen Lohnzuwachs von 14,5 Prozent vereinbart und die Teuerungsrate überschätzt, die zehn Prozentpunkte betrug. Nun liegen 1975 die Reallöhne höher als geplant, die Gewinne niedriger als gehofft. Die Erwartungen, die Lohnsteigerung über die Preise abzufedern, werden enttäuscht, viele verlieren ihren Job.

Von nun an geht's bergauf. 1982 melden die Nürnberger Beamte, die Zweimillionengrenze sei überschritten. Die höchste Arbeitslosenzahl seit Bestehen der Bundesrepublik ist erreicht.

Und es sieht heute so aus, als könnte Deutschland auch die 4,16 Millionen Arbeitslosen verkraften. Was nicht zuletzt mit der Befindlichkeit der Erwerbslosen zu tun hat. Denn arbeitslos ist nicht gleich arbeitslos. Ein Drittel ist länger als ein Jahr ohne Job, diese Gruppe mit der miesesten Prognose ist in den vergangenen Jahren größer geworden; ein weiteres Drittel der Arbeitslosen muß drei Monate bis ein Jahr lang nach einer neuen Stelle suchen; das letzte Drittel schließlich ist nur weniger als drei Monate ohne Arbeit.

Für die meisten ist die Erwerbslosigkeit ein Zwischenstadium. Eine Erfahrung, die prägt. 1995 waren im Laufe des Jahres insgesamt 6,5 Millionen Menschen irgendwann mal arbeitslos. Wie groß die Existenzangst wird, hängt davon ab, „ob und in welchem Maße die Arbeitslosigkeit die eigenen Lebenspläne in Frage stellt“, resümierten Wissenschaftler vom Göttinger Sozialforschungsinstitut Sofi. Sie befragten Arbeitslose in West und Ost. Im Westen fanden sie vereinzelt Kurzzeitarbeitslose, die morgens fröhlich joggten und nachmittags begeistert die Wohnung renovierten. Wer monatelang auf dem Arbeitsamt wartet, bei dem kippt die Stimmung. Spätestens nach gut acht Monaten kommt die Depression, zumal nach einem Jahr meist auch das Arbeitslosengeld ausläuft.

Bislang gelang es nur ansatzweise, Arbeitslose politisch zu organisieren. Was auch tun gegen Jobabbau, der nach den Gesetzen der Marktwirtschaft unausweichlich erscheint? Im vergangenen Jahr gab es in den großen West- Betrieben mit mehr als 500 Arbeitsplätzen insgesamt 241.000 Jobs weniger als 1994. Den Konzernen geht's um so besser, je mehr Stellen sie streichen. Beispiel Thyssen: In Deutschlands größtem Stahlkonzern gingen auch im abgelaufenen Geschäftsjahr im Inland 5.500 Jobs perdu. In diesem Jahr werden es noch mal 2.500 Stellen weniger sein. Der Konzern strich einen Gewinn vor Steuern von rund einer Milliarde Mark ein. Deutschlands größter Chemiekonzern, die Hoechst AG, verzeichnete ein Plus von 1,6 Mrd. Mark.

In diesen Industrien wird es niemals mehr soviel Jobs geben wie zuvor. Aber immer mehr BewerberInnen: Hunderte eilten zum Arbeitsamt Wolfsburg und bestürmten die Personalbüros von VW, als der Automobilkonzern bekanntgegeben hatte, irgendwann und irgendwo in diesem Jahr in Deutschland 1.000 neue Jobs schaffen zu wollen. Daß das Unternehmen gleichzeitig 3.000 Leute in den Vorruhestand schickte und weiter Personal abbauen wird, drang kaum noch durch. A. Rogalla/B. Dribbusch