Stiefmutters negative Schubkraft

Erkaltete Effekte: Harry Kupfer inszeniert Leoš Janáčeks „Jenufa“ in Dresden  ■ Von Sabine Zurmühl

Der Beginn und das Ende sind ein überdimensionaler Beichtstuhl, barock gerundet, Drohung und Heimatangebot gleichermaßen. In Sekundenschnelle wird das Häuschen aufgetrennt – der Länge nach, die Hälften driften auseinander und geben Drahtgänge frei, durchsichtige Hemmnisse, Zäune, durch die alle alles sehen können, aber die nicht einfach zu überwinden sind.

In Dresden hat Harry Kupfer, der Unermüdliche, der „nach Oper Süchtige“, der Chefregisseur der Komischen Oper und Urostberliner („Wenn man am Prenzlauer Berg seine Kindheit verbracht hat, hängt einem das irgendwie an“), Harry Kupfer also hat mit seinem Lieblingsbühnenbildner Hans Schavernoch und dem Kostümbildner Reinhard Heinrich die „Jenufa“ von Leoš Janáček inszeniert.

Janáček wird immer als Dritter im Bunde mit Dvořak und Smetana gehandelt, böhmische Musik, harmonisch, gar trachtenselig. Die Musik des Tschechen aber ist irritierend modern, nervös, sprunghaft, wie Milan Kundera beschreibt, eine „Konfrontation von Zärtlichkeit und Roheit, Raserei und Frieden“. Die Oper wurde 1904 uraufgeführt, und sie hat eine Handlung, die allein in ihren äußeren Koordinaten nicht mehr sehr interessiert: Zwei Brüder, ein eingebildeter Lackel (Stewa) und ein zurückgesetzter, als Knecht gehaltener (Laca), lieben dasselbe Mädchen, Jenufa. Als Jenufa ein Kind von Stewa erwartet, aber noch ein Probejahr verfügt wird von der sittenstrengen Stiefmutter, läßt Stewa sie sitzen. Diese Mutter schließlich bringt das Neugeborene um, damit wenigstens der zweite Bruder Jenufa am Ende „nimmt“.

Bereits 1981 hatte Kupfer in Köln die „Jenufa“ inszeniert und wohl einige Elemente aufgenommen von damals: die weißgekleidete Jenufa mit roten Haaren, das Feuerkind, das zu lebendig und geradlinig geraten ist für die Dorfgemeinschaft und die Glaubensenge der Kirche – das öffentliche Küssen und Kosen mit Stewa auf dem Tisch –, den geradezu gewaltsamen, duckenden Segen der Stiefmutter für die Notgemeinschaft von Jenufa und Laca, dem Schmuddelsohn.

Am interessantesten als Person bleibt aber heute noch die Figur der Mutter, der „Küsterin“, die aus innerer Unfreiheit und Frömmigkeit, aus Glaubenskorsett und sozialer Angst zur Kindsmörderin wird. Harry Kupfer zeigt die Küsterin in hochgeschlossenem schwarzen Stiftskleid mit Kreuz auf der Brust. Die Bürgerliche, die früher reiche Erbin, die nur das Beste für die ihr anvertraute Stieftochter Jenufa will und alles verdirbt. Die große Mutter als Intrigantin und von Ängsten und schließlich Selbstvorwürfen Gepeinigte.

Alle waren gespannt: Gwyneth Jones, die Hochdramatische, die Brünhilde von Chereaus „Ring“ 1976 in Bayreuth, spielte jetzt also die Schattenmacht der Küsterin. Aber es gelang ihr nicht wirklich, die innere Dynamik, die Dämonen, die diese Frau zwischen Fürsorge und Mord, neuerlicher Gängelung und Reue fast zerschmettern, glaubhaft zu machen. Gwyneth Jones war sängerisch durchaus von großer Kraft und Dramatik, wenn auch manchmal eine Schärfe hörbar wurde. Aber der Kraftakt der inneren Präsenz als negative Schubkraft für alle handelnden Personen gelang nicht.

Insofern fehlte der Aufführung letztlich ihr Zentrum, was auch nicht durch die klare und wunderbar leichte Eva Johannson als Jenufa oder die bewunderswerte Anny Schlemm als Großmutter ausgeglichen werden konnte. Die Szenen mit Albert Bonnema, dem Stewa, der die Jenufa verhöhnt mit ihrem Lieblingslied und triumphierend mit einer neuen Verlobten auftaucht, hatten etwas vermufft Neckisches; der zweite Bruder, Laca, läßt in seiner ganzen Rohheit und Unbeholfenheit doch ahnen, daß er Beständigkeit haben könnte und Aufrichtigkeit.

Insgesamt bleiben die Personen bei Kupfer diesmal erstaunlich bloß und äußerlich, nur kurz gelingen Bilder der Intimität und Ruhe. Und auch die so faszinierende Bühne von Hans Schavernoch mit den beweglichen Drahtgängen, die sich erstickend rasch schließen lassen oder unschuldig als Diagonale daliegen, bis sie wieder zum Mittel der Kontrolle und Allgegenwärtigkeit werden – auch dieses Bild trägt zur Ruhelosigkeit des Abends bei, zur Verhinderung letztlich jeder Intimität, jedweden Atemholens – vielleicht als Effekt genauso gewollt, aber dadurch kalt und zu wenig trennend zwischen Wichtig und Unwichtig.

Dieses Gefühl mag der Abend vielleicht bei mehreren ausgelöst haben – jedenfalls hielten sich am Ende neben der großen Akzeptanz der Dresdner Staatskapelle unter Wolfgang Rennert und dem Jubel für Eva Johansson als Jenufa die Bravos und Buhs für die schwarzgewandete Macherriege die Waage.

Dresdner Semperoper: Leoš Janáčeks „Jenufa“. Inszenierung: Harry Kupfer. Nächste Aufführungen am 7., 10., 15., 18. und 21. Februar