Geschichte mit dem Bus er-fahren

■ Das Projekt „Bus-Stop“ mit seinem „Fahrplan“ zu authentischen Orten des Holocaust will aktive Geschichtsarbeit statt eines zentralen Denkmals

Mit einem „Fahrplan“ für das Projekt „Bus-Stop“ stellt die NGBK (Neue Gesellschaft für Bildende Kunst) eine neue Weiche für die Diskussion um das Holocaust-Denkmal. Das schmale rote Heft faßt Informationen über historische Orte und Gedenkstätten in Berlin zusammen und verzeichnet Zugstrecken zu entfernten Tatorten des nationalsozialistischen Massenmordes. Als Teilschritt der Realisierung des Projekts von Renata Stih und Frieder Schnock, die im Wettbewerb um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ den elften Rang belegten, bietet der „Fahrplan“ ein Instrument für die aktive Geschichtsarbeit an. An die Stelle eines monumentalen Symbols setzt er Erfahrung der authentischen Orte, deren Zustand oft mehr über den deutschen Umgang mit der Geschichte verrät, als den Denkmalsetzern lieb ist. Zugleich ist der „Fahrplan“ ein Kunstwerk im Taschenformat, wie Leonie Baumann, NGBK-Geschäftsführerin, betont. Denn wie eine Skizze stellt er eine zentrale Idee des „Bus-Stop“-Projektes mit den ästhetischen Mitteln des Alltags vor: Abgebildet wird in den Wegstrecken zu den authentischen Geschichtsorten die Logistik der Deportation. Die Eisenbahn ist kein zufälliges Instrument der Geschichtserkundung, war sie doch Werkzeug der Vernichtungspolitik. Strecken und Fahrzeiten spiegeln die Organisation des Völkermordes. Er-fahrbar wird der Eisenbahnknotenpunkt Berlin als strategische Zentrale der Vernichtung. Nicht erst am ausgezeichneten Ort beginnt die Reflexion der Geschichte, sondern schon längs der Strecke sickert Vergangenheit in den Alltag. Damit wächst ihre Chance, sich von einem lähmenden Ballast der Schuld in Bausteine der Erkenntnis aufzulösen. Faßbar werden, wie schon in dem „Denkmal im Bayerischen Viertel“ von Stih/Schnock, die Kleinteiligkeit und bürokratische Sorgfalt, mit der die rassistische Politik umgesetzt wurde.

Bei ihren Recherchen nach Lagern, Orten der Zwangsarbeit, Todesmärschen und vergessenen Hinrichtungsstätten gewann Stih den Eindruck, daß „das ganze Land voll davon ist“. Bei der Auswahl ging es dem „Fahrplan“- Team um die Erfahrung, daß kaum noch sichtbare Spuren des Terrors oft schon „um die nächste Ecke“ zu finden waren. Ein zentrales Mahnmal aber schiebt die Auseinandersetzung mit der Geschichte aus der Nähe fort.

Die knappen Informationen des „Fahrplans“ über „Denkorte“ in Berlin tragen den unterschiedlichen Gedenkpolitiken in Ost- und Westberlin Rechnung. Sie verdeutlichen, daß im Gedenken oft ein Streit um Interpretation und Konstruktion von Geschichte aufbricht: Das belegt der anhaltende Konflikt um eine Gedenktafel für 260 ermordete Kriegsdienstverweigerer am ehemaligen Reichskriegsgericht (heute Amtsgericht Charlottenburg). Beim Wettbewerb für das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ bildete der Ausschluß nichtjüdischer Opfer das Potential für einseitige Vereinnahmung. „Bus-Stop“ schließt dagegen Fahrten zu einem Lager für Sinti und Roma und die Erinnerung an jüdisch-kommunistische Widerstandsgruppen mit ein. Katrin Bettina Müller

Der „Bus-Stop-Fahrplan“ ist für 5DM bei der NGBK, in Gedenkstätten und Buchhandel erhältlich.