Die ersten palästinensischen Wahlen im Westjordanland, dem Gaza-Streifen und in Ost-Jerusalem verdienen das Etikett "free and fair" - obwohl Jassir Arafat den demokratischen Spielraum erheblich eingeschränkt hatte. Unter den PalästinenserIn

Die palästinensischen Wahlen besaßen eine doppelte Funktion. Sie waren die Voraussetzung für einen Rückzug des israelischen Militärs aus weiten Teilen des Westjordanlandes gemäß dem israelisch-palästinensischen Interimsabkommen vom September 1995 („Oslo II“) und insofern ein „Nadelöhr“, durch das der Friedensprozeß zwischen Israel und den Palästinensern hindurch mußte. Zudem schien sich die langgehegte Hoffnung zu erfüllen, daß in den palästinensischen Gebieten die erste Demokratie in der arabischen Welt entstehen könnte. Die Palästinensische Autonomiebehörde unter Leitung von Jassir Arafat jedoch nutzte eine Reihe von Möglichkeiten, den demokratischen Prozeß durch Wahlmanipulation zu unterlaufen. Ob in „Palästina“ daher in den letzten Tagen Geschichte geschrieben wurde, ist eine Frage des Blickwinkels.

Die in vielen Ländern verbreitete plumpe Fälschung von Wahlergebnissen gehörte zu den kleinsten Problemen der palästinensischen Wahlen. Der Wahltag selbst verlief, nicht zuletzt wegen der massiven Anwesenheit internationaler Wahlbeobachter, weitgehend reibungslos und verdiente das Etikett „free and fair“. Wenn Demokratie wirklich gelernt sein will, so haben die Palästinenser auf organisatorisch-bürokratischer Ebene bereits ein gehobenes Maß an Effizienz erreicht. Gleichwohl war der demokratische Gestaltungsspielraum bereits im Vorfeld äußerst klein gehalten worden. Das Wahlgesetz basierte auf dem Mehrheitswahlrecht und ließ kleineren Parteien nur wenig Chancen, Sitze im neuen Palästinensischen Autonomierat zu erobern. Der „Ra'is“ (Präsident), wie Arafat sich nun auch mit dem Segen eines demokratischen Prozederes nennen kann, hatte zudem Wahlkreise beliebig definiert. Die Wahlkampfperiode wurde auf wenige Wochen begrenzt, was allen politischen Kräften schadete, außer Arafat und der von ihm geführten Fatah, die aufgrund ihrer Bekanntheit keine Werbung brauchten. Es entstand eine neue Unübersichtlichkeit aus Parteien und unabhängigen Kandidaten, die sich programmatisch kaum profilieren konnten, letztlich alle den unabhängigen palästinensischen Staat und wirtschaftlichen Aufschwung versprachen, ohne daß erkennbar wurde, worin Alternativen zur derzeitigen Autonomieregierung bestanden. Arafat nominierte neben den Kandidaten seiner Partei auch das zentrale Wahlkampfkomitee, dessen Unabhängigkeit damit ebensowenig gesichert war wie die der polizeilich eingeschüchterten Medien.

Nicht alle Unzulänglichkeiten der palästinensischen Wahlen waren das Ergebnis autoritärer Willkür. Auch Staaten wie Großbritannien haben mit Hilfe des Mehrheitswahlrechts kleinere Parteien wie die Grünen aus dem Parlament herausgehalten. Die Profillosigkeit der palästinensischen Parteien resultierte überwiegend aus der erzwungenen politischen Abstinenz der israelischen Besatzungszeit und ist zudem in der Sozialstruktur verwurzelt, wo personelle und klientelistische Bindungen bis heute nur zum Teil von Klassenbezügen und modernen Institutionen abgelöst worden sind.

Dennoch will Jassir Arafat den Autonomieprozeß offfensichtlich nutzen, um seine Herrschaft im Westjordanland und im Gaza- Streifen, wo lokale Gewalten die „Newcomer“ der Diaspora-PLO häufig als Konkurrenz empfinden, mit undemokratischen Mitteln zu festigen. Es ist zu befürchten, daß die palästinensische Autonomie kein Modell, sondern eine bloße Kopie anderer arabischer Autokratien wird. Wenn die jüngere Geschichte zeigt, daß Führer revolutionärer Bewegungen (wie Fidel Castro) sich fast nie zu guten Demokraten gewandelt haben, dann ist fraglich, ob Arafat einen sinnvollen Neuaufbau der palästinensischen Politik und Gesellschaft gewährleisten kann.

Diese Frage ist auch bei den Palästinensern umstritten. Die konstruktive Bedeutung der palästinensischen Wahlen bestand aus demokratischer Perspektive darin, daß sie eine innergesellschaftliche Diskussion über das politische System stimuliert haben. Die Defekte der Vorwahlperiode wurden angeprangert. Frauen demonstrierten gegen ihre Verdrängung aus der Politik, und zum ersten Mal erklärten sich fast alle Gegner des Osloer Friedensprozesses – von der linken „Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas“ (DFLP) bis zur islamistischen Hamas – prinzipiell zur Integration in den politischen Prozeß bereit. Extremistische Gewalt ist in der palästinensischen politischen Kultur weiter auf dem Rückzug. Die Opposition hat sich deutlich zu Wort gemeldet. Sie erwies sich als zu selbstbewußt und zu vielfältig, um von Arafat auf Dauer erfolgreich unterdrückt zu werden.

„Historisch“ waren die Wahlen aus der Perspektive des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses. Im ersten Halbjahr 1995 war dieser wegen der fortgesetzten Siedlungstätigkeit Israels, der Konfiszierung von palästinensischem Land, aber auch durch die Sprengstoffattentate von „Dschihad al-Islami“ und Hamas fast zum Stillstand gekommen. Nicht einmal die Hälfte der Israelis und Palästinenser unterstütze laut Meinungsumfragen noch die Politik von Jassir Arafat und Israels damaligem Regierungschef Jitzhak Rabin. Die Situation hat sich jedoch seit dem Abschluß von „Oslo II“ erneut zum Positiven gewandelt. Während eine Verschiebung der Wahlen um einige Monate sinnvoll gewesen wäre, hätte zuviel demokratischer Perfektionismus und ein weiterer Aufschub die neue Dynamik des Friedensprozesses möglicherweise zurückgeworfen.

So jedoch ist es der Palästinensischen Autonomiebehörde gelungen, ihre Forderung nach einer starken Stellung des direkt gewählten Präsidenten und nach parlamentarischer Kompetenzfülle des neuen Palästinensischen Rates gegen Israels Versuche durchzusetzen, sie auf dem Niveau bürokratischer Weisungsempfänger zu belassen. Die Umrisse politischer Institutionen eines palästinensischen Staates sind erkennbar geworden, auch wenn sie die Bezeichnung „demokratisch“ nur eingeschränkt verdienen.

Das Interimsabkommen hat zudem für die Zeit nach den Wahlen die Aussicht auf einen Rückzug israelischen Militärs aus dem besetzten Westjordanland mit Ausnahme der jüdischen Siedlungen und der Siedlungstrassen eröffnet. Zwar hat sich die Regierung um Schimon Peres nur zur Rückgabe palästinensischer Städte und Dörfer verpflichtet, die nicht mehr als 30 Prozent des Westjordanlandes ausmachen. Das unbewohnte Hinterland steht weiterhin dem israelischen Militär zur Verfügung. Dennoch wurde die Rückgabe von mehr palästinensischem Land versprochen, und die neue „Kantonisierung“ des Westjordanlands und zu erwartende Spannungen in den „Homelands“ der palästinensischen Autonomie werden mit großer Wahrscheinlichkeit dafür sorgen, daß dieses Versprechen auch eingelöst wird. Damit wird der Weg für zeitgleiche Verhandlungen über die bedeutsamsten Fragen des palästinensisch-israelischen Friedens frei. Der Frieden zwischen Israelis und Palästinensern wird in Jerusalem und in den israelischen Siedlungen des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens entschieden. Kai Hafez