■ Schlagloch
: Hunde auf der Autobahn Von Mathias Greffrath

„where the dead ones wait for the earthquakes to come“ (Ezra Pound, Cantos; zitiert in Heiner Müller: „Mommsens Block“)

Rasselnd ging der Rolladen hoch. Noch hing der Qualm der Artillerie über dem kleinen Platz, aber der Bäcker öffnete schon wieder. Ein Kneipier stellte zwei Tische auf die Straße, Stühle dazu. Von irgendwo kam der Akkordeonspieler, ein Paar wiegte sich im Takt des Musettewalzers. Ein alter Mann sagt: „Das ist es, was diese Stadt gewollt hat und wofür sie gebaut worden ist; was sie vergessen hat unter den Peitschenhieben und an was sie erinnert wurde durch uns.“ Und er breitet die Arme aus und fragt: „Was fehlt?“ Das war 1963. „Die Tage der Commune“ auf der Bühne des Berliner Ensembles. Sechste Szene. Und draußen die Einschußlöcher der Geschichte. Bei Brecht hat meine Generation gelernt, wie man Ernst und Sinnlichkeit, Politik und Glück, Gefühl und Vernunft zusammenbringen könnte.

Ein Vierteljahrhundert später war die graue Gegenwelt am Ende. Wir wanderten durch den Osten, bis uns die Füße abfielen. Die Billettverkäuferin im BE war den Tränen nahe. „Jetzt kommt alles, dessentwegen wir hiergeblieben sind.“ Es gab die „Dreigroschenoper“, in einer schlimm erstarrten Version. Später sang Biermann in Leipzig: „Lieber Gott, laß Du den Kommunismus siegen.“ Ach ja.

Und nun ist Müller tot. Im plüschigen Rangfoyer des BE sitzen ernste Menschen und hören tagelang Lesungen. Viele zum erstenmal. Viele, die mit der Blut-und- Sperma-Dramatik nicht viel anfangen konnten früher. Warum sitzen sie hier, merkwürdige Mischung ernster Menschen, denen Ost und West nicht mehr anzusehen ist, gedämpfte Töne, niemand mit kanarenbraunem Gesicht?

Schlimmkomische Texte werden gelesen, dialektische Zumutungen wie der Satz über die Russenpanzer, ohne die es keinen Sozialismus gegeben hätte in Ostdeutschland. Dies sagen und loyal zur DDR sein – das war Müller. Dann lesen die Bühnenarbeiter des Deutschen Theaters: „Wir wollen den Regisseur und Menschen ehren. Er hat – was selten war – immer die Distanz zwischen oben und unten überbrückt. (Pause) Meist mit Getränken.“

Anders im Feuilleton: Da wird nichts überbrückt, da wird Zugehörigkeit reklamiert. Heiner, der Kampf geht weiter, ruft André Meier in der taz und jammert, daß Müllers Tod „für den Osten ein existentieller Verlust ist“. Im Freitag dröhnt es vom „letzten kommunistischen Intellektuellen. (...) Etwas verschwindet.“ Aber Müller eignet sich nicht für eine neue Runde des Feuilletonspiels Ost gegen West. Müller eignet sich eigentlich nicht einmal für Trauer. Er ist öffentlich gestorben, seit einiger Zeit, hat seinen Abgang inszeniert. Beiläufiger als Mitterrand, aber spürbar. Im gestischen Stil, wie von Brecht inszeniert. Es war eine Art öffentlichen Abschminkens. Im großen Ton war alles gesagt, über das Jahrhundert und über die Aussichten. Mehr wußte er auch nicht. Also hat er seine Häuser bestellt, die Akademie, das BE. Und ohne Speiseröhre weitergelebt. Nun verzehrte er seine Vergangenheit, alle Vergangenheit im Gespräch, trat ab ins Private, in das die Partei ihn vor einem Lebensalter verwiesen hatte, ein Verlierer der Geschichte, der Freundlichkeit gegen sich und andere walten ließ, entrückt ohne falsche Würde.

Müller wollte nicht zu den köstlichen Leichen gehören, den Toten, die auf die kommenden Erdbeben warten. Der Gegenwart traute er nichts mehr zu, nur noch den Toten: „Eine postnihilistische Kultur muß sich ihrer Toten erinnern. Das Niveau einer Kultur bestimmt sich daran, wie sie mit den Toten umgeht.“

Die Frage ist allerdings, ob unser Pessimismus, was die Zukunft angeht, nicht weiter reichen muß. Die Sprengkraft der Gedanken und der Bilder aus der Vergangenheit: Hat der Gegner sie nicht schon längst entschärft? Gerade macht sich Bill Gates daran, mit dem Gewinn aus Videospielen und Beschleunigungsprofit die Bildarchive der Vergangenheit aufzukaufen. Von Einsteins Zunge bis zu Botticellis Venus – alles längst digitalisiert und privatisiert.

Und das Theater? „Die Ära Shakespeare geht mit dem Bankrott der sozialistischen Alternativen zu Ende“, hat Müller, in Zigarrenlaune und schöner Verkürzung, seinem Biographen diktiert. „Die menschliche Substanz ist aufgebraucht“, hat er in Whiskylaune dazugefügt. Einspruch. Das Ende von Müllers Welt und die Resultate des 20. Jahrhunderts sind nicht das Ende der Geschichte. Was für unsere Kinder Barbarei ist, das sollen die doch bitte selbst herausfinden. Wir könnten ihnen dabei helfen, wenn wir ihnen ein paar brauchbare Orte hinterlassen, an denen sie sich darüber verständigen können. Ein paar Nächte werden wir den Lesungen aus dem plüschigen Rangfoyer noch zuhören, denn das ist eine schöne Art, einem Dichter Lebewohl zu sagen. Noch ein Abschied also, und immer noch einer? Was machen wir mit unserer aufgeklärten Ratlosigkeit? Was soll mit dem Berliner Ensemble, dem Ort unserer frühen Aufklärung, werden? Was fehlt? Auch hier hilft Müller. In seinen Memoiren erzählt er, wie Brecht in die DDR kommt, in Leipzig alle Journalisten aus dem Hörsaal schickt und dann den Studenten sagt, was er wolle: „ein eigenes Theater zur wissenschaftlichen Erzeugung von Skandalen“.

Das ist eine vortreffliche Beschreibung, an der wir alle Theaterprojekte der Zukunft streng messen können. Und es könnte sogar sein, daß der unerträglich eitle Biermann recht hat und wieder eine Zeit für Brecht kommen wird: „Als ich vor Jahren beim Studium der Vorgänge auf der Weizenbörse Chikagos“, schrieb dieser vor zwei Menschenaltern, „plötzlich begriff, wie sie dort das Getreide der Welt verwalteten / ... / Wußte ich gleich: du bist / In eine böse Sache geraten / ... / Dies war ein Zustand, sah ich, der nur durch Verbrechen / Aufrecht zu erhalten war, weil zu schlecht für die meisten...“ Nun ist der Kommunismus tot, und alle bösen Sachen leben. Was rät Müller? „Wiedergeburt des Revolutionärs aus dem Geist des Partisanen: Mag der Partisan in einer Industriegesellschaft ein Hund auf der Autobahn sein. Es kommt darauf an, wie viele Hunde sich auf der Autobahn versammeln.“

Aber auch Stoffe nach antikem Vorbild, Stoffe für Müller-Epigonen also, gibt es reichlich: Marc Aurel – das ist der Europäer, der die Errungenschaften der „westlichen Zivilisation“ nicht aufgeben will, er muß dann halt im Süden ein bißchen herumschießen. General Kléber, Napoleons Feldherr, der Freimaurer, der den Universalismus von Menschenrechten herstellen will – wird mit durchgeschnittener Kehle nach einem Kongreß in Kairo aufgefunden. Sicherheit, Gerechtigkeit, Aufstand – Müllers blutige Stücke bleiben auf dem Spielplan. Dazu neue große Schurken wie die Sinn-Condottieri Berlusconi und Kirch, neue Menschensorten wie die bindungslose Rasse der globalen Spieler, Wanderungen zwischen Sudan und Schweden, Veränderungen der Natur in gigantischem Ausmaß – alles schon zu sehen und alles noch nicht theaterfähig. Haben wir das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters immer noch vor uns?