Überprüfungswürdige Hirngespinste

■ Der Basler Psychiater Volker Dittmann über die Holst-Vorwürfe gegen das AKO Von H. Haarhoff

Dokument der verzerrten Realitätswahrnehmung eines Persönlichkeitsgestörten? Oder ernstzunehmende Kritik an den Mißständen im Maßregelvollzug der deutschen Psychiatrie? In einem angeblich von dem Frauenmörder Thomas Holst verfaßten Schreiben werden schwere Vorwürfe gegen Therapiemethoden, Patientenbehandlung und Mitarbeiter-Kompetenz in der geschlossenen Psychiatrie des Allgemeinen Krankenhauses Ochsenzoll (AKO) erhoben. Der Text ging der taz am 2. Januar auf einer Diskette mit Holsts Unterschrift zu.

Ähnlich wie im „Dossier zu den Rechtsverstößen im AKO“ vom Januar 1995 wird in dem 17seitigen Bericht kritisiert, psychisch gestörte Kriminelle würden im AKO lediglich verwahrt statt therapiert. Privatdozent Dr. Volker Dittmann, Leiter der Forensisch-Psychiatrischen Abteilung an der Uni-Klinik in Basel, gab gegenüber der taz eine Einschätzung zur Glaubwürdigkeit des Dokuments ab, „sofern mir das als außenstehender Gutachter möglich ist“. „Der Bericht entspricht dem eines Menschen mit narzißtischer Persönlichkeitsstörung, wie sie bei Holst diagnostiziert wurde“, urteilt der Experte. Die allgemeinen Mißstände in der Psychiatrie, die Holst anprangere, seien aber „nicht sämtlich als bloße Hirngespinste abzutun“, sondern überprüfungswürdig: „Einige der beschriebenen Probleme existieren in vielen deutschen Psychiatrien.“

Die Liste der Kritik, aus der Holst sein angebliches Fluchtmotiv konstruiert, ist lang: Sein mehrfach geäußerter Therapiewunsch sei mit fadenscheiniger Begründung abgelehnt, statt dessen ein Fernseher angeknipst worden. Therapeuten seines Vertrauens seien gegen seinen Willen ausgewechselt worden. Den Ärzten unterstellt Holst mangelnde fachliche Kompetenz und die Absicht, ihm vorsätzlich die Therapierbarkeit absprechen zu wollen, um ihn in den gewöhnlichen Knast abschieben zu können. Im AKO sei man von Anfang an „nicht Willens“ gewesen, „mir wirkliche Hilfe zukommen zu lassen“.

Dr. Dittmann zufolge sind diese Anschuldigungen „typisch für eine Person mit Holsts Persönlichkeitsstörungen“: Eigene Fehler und Versäumnisse würden grundsätzlich auf andere projiziert, auch die „Flut von Anklagen“, die Holst gegen die „verschworene Gemeinschaft“ im AKO erhebe, entspreche der Neigung, sich selbst stets als Opfer zu sehen. Insofern könnten Vorwürfe, die Ärzte hätten ihn absichtlich mit zugigen Räumen oder der Anwesenheit streitsüchtiger Patienten schikaniert, eher als abwegig gelten. Charakteristisch sei auch Holsts Therapie-Abwehr: „Die Ablehnung wird formal begründet, der wahre Grund aber ist die Persönlichkeitsstörung“, sagt der internationale Gutachter für psychisch schwerstgestörte Verbrecher.

Die personellen und räumlichen Mißstände in Ochsenzoll seien dagegen kein Einzelfall. Holsts behauptet, die Patienten würden sich selbst überlassen und verwahrlosten. Das Pflegepersonal kümmere sich vornehmlich um die Sicherheitsbelange im Krankenhaus. Auf der Akut-Aufnahme-Station seien Menschen mit den unterschiedlichsten Störungen auf engstem Raum untergebracht, was zwangsläufig zu Konflikten führe. „Die forensische Psychiatrie arbeitet überall unter schweren Bedingungen: Die Patienten sollen geheilt werden, außerdem ist der öffentliche Druck nach maximaler Sicherheit für die Bevölkerung enorm“, entgegnet der Psychiater. Daher stehe bei den Akut-Stationen die Sicherheit im Vordergrund. Monatelange Beobachtungen zum Kennenlernen der Patienten seien nicht ungewöhnlich. Daß es zu Aggressivität aufgrund der höchst unterschiedlichen Krankheitsbilder komme, sei zwar bedauerlich, praktisch aber unvermeidbar: „Wir können nicht für jede Störung eine eigene Aufnahme-Station schaffen.“

Das Schreiben hält Dittmann für authentisch: „Stil, Satzbau und Rechtschreibfehler ähneln denen des Dossiers vom Januar 1995“ und ließen auf die gleiche Autorenschaft schließen: „Inhaltlich klingen seine Eigendiagnosen zwar hochtrabend. Doch der Schreibstil zeigt, daß der Verfasser nicht ganz sprachfest ist. Das würde zu Holst passen.“ Zugleich hegt der Baseler Forensik-Chef den Verdacht, daß Holst Hilfe vom AKO-Personal erhielt: „Viele Textstellen sind im therapeutischen Jargon verfaßt, wie sie ein Laie nie formuliert hätte.“ Holst habe „viele Interna, die sich normalerweise der Kenntnis von Patienten entziehen, nur aufgrund von Insider-Infos kennen“ können: So schildert Holst detailliert Personal-Intrigen. Unbefugte Angestellte hätten den Patienten Überdosen an Psychopharmaka verordnet. Krankenakten enthielten gefälschte Angaben, aufmüpfige Insassen würden mit Zwangsverlegung bedroht: „Holst muß gezielt mit Informationen versorgt worden sein“, folgert Dittmann.

Die übrigen Anschuldigungen aber dürften nicht abgetan werden. Sollte ein Therapeut, wie von Holst beklagt, „tatsächlich in Anwesenheit der psychisch Kranken onaniert haben, dann ist das gravierend und gehört von einer Untersuchungskommission geprüft“, empfiehlt der Psychiater.

Die generelle Frage, ob Holst überhaupt therapierbar ist – AKO-Chef Klaus Böhme erklärte in der gestrigen Ausgabe der Welt am Sonntag, der Frauenmörder sei derzeit besser in einer Strafanstalt aufgehoben –, dürfte angesichts der derzeit fehlenden wissenschaftlichen Beurteilungsgrundlage schwerlich zu beantworten sein: Die Therapie von sadistischen Gewalttätern mit narzißtischer Persönlichkeitsstörung, so Dittmann, ist ein ungelöstes Problem: „Es gibt da kein Lehrbuch wie zu Schizophrenien oder Depressionen. Das Feld ist weitestgehend unerforscht, weil es glücklicherweise nur wenige Gewalttäter wie Holst gibt.“ Er selbst, bilanziert der Psychiater seine jahrzehntelange Erfahrung, „kenne keinen sadistischen Mörder, der bisher erfolgreich therapiert werden konnte.“ Im deutschsprachigen Raum fehlten „wissenschaftlich saubere Daten“: „Zur Zeit experimentieren wir nur.“ Nicht einmal alle Forschungs-Teilergebnisse seien zentral erfaßt. Erfahrungen aus den Niederlanden hätten zudem gezeigt, „daß so eine Therapie auch bei weniger Gestörten mindestens fünf bis sieben Jahre dauert“. Wenn man so intensiv arbeiten wolle, „bräuchten wir ein bis zwei Betreuer pro Patient. Das bezahlt hierzulande aber niemand“.