Harte Frontfrauen und Korntrinker

■ Schlaflose Nächte 1995: Die Bremer Bands produzierten, was Stimmbänder und Sample-Computer hergaben

Record-Release-Parties wohin man auch schaut, überall Band-Wettbewerbe, Neugründungen und Altauflösungen. Schlafen gehört zu den Dingen, die die Bremer Musikszene 1995 nicht getan hat. Obwohl eine der erschütterndsten Nachrichten wohl war, daß eine besonders liebgewonnene Bremer Größe nie wieder aufwachen wird: Die „Wir-sind-echt-keine-Hippies“-Hippies „Weed Beat“ trennten sich im August endgültig, obwohl sie schon damals nur noch eine Phantom-Band, ein Schatten ihrer selbst sozusagen, waren. Inoffiziell existierten sie nämlich bereits nicht mehr, rauften sich aber für ein amtliches Abschiedskonzert auf der Tower-Bühne noch einmal zusammen, nachdem posthum ein Stück von ihnen den Weg auf eine Vinyl-Kompilation gefunden hatte.

Lange trug man freilich nicht Trauer, konnte Bassist Boris sich doch nun voll und ganz um seine Zweit-Band „Die Lowlander“ kümmern, in der auch der zwielichtige ehemalige „Weed Beat“-Manager Guido Müller trommelt, von dem gemunkelt wird, er habe die Blumenkinder in den Ruin, den Wahnsinn und schließlich in die Auflösung getrieben.

Mit schepperndem, feuchtfröhlichen R&B-Eigenkompositionen wie „Wild Man“ oder „Jack the Ripper“ und ihrer Schottenverkleidung wurden die Flachländer zu den Shooting-Stars des Jahres und der härtest arbeitenden Band im Bremer Showbusiness. Ihre Konzerte folgten bisweilen so dicht aufeinander, daß manchmal nicht mal Zeit blieb, den Betreibern der Veranstaltungsorte vorher Bescheid zu geben.

Harte Arbeit war auch kein Fremdwort für die Hardcore-Punker „Adelheid Streidel Experience“, die endlich ihr erstes Album auf den Markt schmissen und soviel im Ausland herumtourten, daß ihre Heimatstadt bisweilen an Entzugserscheinungen litt. Ein Traum ging leider nicht in Erfüllung: Der Auftritt im Schlachthof als Vorgruppe der US-Hardcore-Päpste „Fugazi“ mußte aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig abgesagt werden.

Viele Rätsel gab der „Local Heroes“-Wettbewerb von „radio ffn“ auf. War es bei der Bremer Vorausscheidung noch fragwürdig, ob der Sieg der vielköpfigen Funk-Formation „Call Me Names“ berechtigt war, so waren sie beim Finale mit Abstand der beste Act, konnten aber die Jury davon nicht überzeugen.

Nun produziert der Privatsender zwar keine CD für die Bremer, aber man kann sie und andere Hörenswerte Lokalhelden wie die pfiffigen „Zentrifugal“ oder „F. A. B.“ auf dem just erschienenen HipHop-Sampler „Breitseite“ begutachten. „F. A. B.“ alias „Freak Association Bremen“ haben indes auch ihre ganz eigene Platte aufgenommen und werden von jedermensch geliebt. Daß Ober-Freak Immo beim Videodreh im Schlachthof vom Publikum mit Bierbechern und anderem Unrat beworfen wurde, sollte nicht weiter verunsichern.

Gleichfalls durch nichts erschüttern ließ sich Bremens Glitter-Jazz-Duo No. 1 „Pearly Passion“. Ohne mit den langen Wimpern zu zucken spielten sie stets in feinster Abendgarderobe auf Modeschauen und Theaterbühnen ebenso wie in Biergärten und auf Stadtfesten. Brüllte mal ein Trunkenbold dazwischen, verstummte er schnell, wenn Sängerin Kate Pearl ihn zu ein bißchen Natursekt auf die Bühne bitten wollte. Eine Frontfrau zum Fürchten.

Mag Abendgarderobe zur musikalischen Reise durch die Wunderwelt der Evergreens angebracht sein, war sie doch ein eher befremdliches Bild bei der Record-Release-Party der Popcore-Wunderkinder „Queerfish“. Aber wo sie ihre Seelen schon für einen lukrativen Plattenvertrag verkauft hatten, wollten sie das ganze stilecht mit einer Cocktail-Party feiern, komplett mit nervösen Label-Vertretern, die über die neuen Pferde in ihrem Stall wachten.

Flinker noch landeten die bassistenlosen Korntrinker „44XES“ ihren Plattenvertrag, was ihnen aber wohl ein wenig zu Kopf stieg. Der flotte Crossover-Sound mit den pfiffigen Samples auf ihrer CD „Banish Silence“ klang zur Veröffentlichungsfeier angestrengt und peinlich kraftmeierisch, was durch das schwitzige Oben-ohne-Posing des Sängers nicht unbedingt abgeschwächt wurde.

Kaum hat man die Eindrücke des Musikjahres 1995 verarbeitet und die zahlreichen neuen Tonträger einsortiert, wirft auch schon das nächste Jahr seine Schatten voraus. Die Nordenhammer/Bremer Fun-Punk-Veteranen „Stinkebreit“ werden endlich ihre vielfach angekündigte neue Single auf die Reihe bekommen. „Die Lowlander“ spielen seit neuestem probeweise mit Saxophonisten. Vermutlich werden sie ab demnächst entweder nur noch Jazz spielen, oder den Neuling wieder rauskicken, woraufhin der dann eines Tages als auf der Strecke gebliebener fünfter Lowlander zornige Enthüllungsbücher über die anderen vier schreiben wird. Ferner hat die längst aufgelöst geglaubte Bremen-Norder LowFi-EBM-DIY-Legende „Brotherhood of the Black Hat“ ihre Reunion angekündigt, um im Zuge des Gothic-Revivals noch schnell ein paar Groupies abzugreifen und die Rente zu sichern.

Andreas Neuenkirchen