Von Hollywood lernen

■ 100 Jahre Genrekino - Das Musical und die Aufhebung (im Hegelschen Sinne) der Schwerkraft: Großes Finale!

„It's showtime, folks!“ So beginnt „All That Jazz“ (1979), ein sehr merkwürdiger Film, selbst für ein so kurioses Genre wie das des Tanzens und Singens: Bob Fosses Geschichte eines Choreographen und Regisseurs, genauer gesagt: seines Sterbens wg. zuviel Arbeit, Drogen, Sex.

Eine satirisch-autobiograpische Mischung aus Tanz und Herzoperation, kommentiert von einem wunderschönen fellinesken Todesengel, und der Todeskampf unseres Helden – Roy Scheider, ausgerechnet! – wird als großes Finale inszeniert, irgend etwas zwischen „Oscar“-Preisverleihung und Dieter Thomas Heck, eine halbe Stunde lang, mit Treppen und Drehbühnen, Klatschpublikum, Showgirls und mit Stargästen, die sagen, was sie bei solchen Gelegenheiten immer sagen: Sie liebten die Show und deren Regisseur, denn er sei „ein großer Entertainer, ein großer Künstler und ein großer Freund“ – falsch! Er sei egozentrisch, überschätzt und ein Arschloch, und der Chor singt die ganze Zeit „Bye-bye love, bye-bye happiness, hello loneliness, I think I'm gonna die“, was nicht sehr witzig wäre, und deshab singt er statt „love“ „life“ und wird immer langsamer und leiser – und tschüß! Das ist ähnlich anrührend wie das Verlöschen des Computers HAL aus „2001“, wenn er abgeschaltet wird und mit ersterbender Stimme „Hänschen klein“ singt.

Ob „All That Jazz“ gut ist? Vielleicht ist er ein bißchen sehr bizarr und ambitioniert („More an art item“, sagt Mr. Halliwell), man fühlt sich nicht nur wegen der Künstlerideologie („Leben gab ich für Werk“) gelegentlich etwas uneasy und beklommen. Aber das Groteske des Films, die Idee, ein richtiges Musical mit allen Schikanen über Sterben zu machen, ist schon sehr hanebüchen und bestrickend. Vor allem bewundere ich, daß es Fosse gelungen ist, für diesen ersichtlich teuren Film den Produzenten eine Menge Geld abzuluchsen. Nach dem Triumph von 1972, fünf „Oscars“! – „Willkommen, bienvenu, welcome: im Cabaret, au Cabaret, to Cabaret! Leave your troubles outside! Life is disappointing? Forget it. In here life is beautiful. Even the orchestra is beautiful“, dieses wunderbare Eingangslied des Zeremonienmeisters Joel Grey, das das Versprechen und die grandiose Nichtigkeit des Musicals und also Hollywoods wie kaum ein zweites ausdrückt –, hatten die Produzenten Fosse offenbar einen ähnlichen Erfolg zugetraut, aber „All That Jazz“ war ein ziemlicher Flop, den Sie sich unbedingt ansehen sollten, und sei es als Beleg dafür, daß sie in Amerika mittlerweile sogar die besseren Autoren- und Kunstfilme drehen.

„All singing, all dancing!“ – Ende der zwanziger Jahre mit dem Tonfilm wurde Hollywood musicalverrückt, von „Broadway Melody“ bis „Gold Diggers“ und Anfang der Dreißiger dann „Forty- Second Street“: das klassische Musical, das erzählt, wie ein Musical entsteht, mit „auditions“, bei denen der Regisseur als Herr über Leben und Tod die Tänzer auswählt, Backstage-Szenen, Liebesgeschichten, mißglückter Generalprobe, dann springt der Geldgeber ab, der Star bricht sich das Bein, und Ruby Keeler, die begabte Anfängerin, bekommt ihre Chance und, was soll ich sagen: Die Show wird ein Riesenerfolg!

Hundertfach kopiert und immer wieder schön: Busby Berkeleys tanzende bzw. schreitende Mädchenhundertschaften, Treppe rauf, Treppe runter, parallel, diagonal, dann der berühmte „overhead shot“, und die Girls sinken hin, als würde sich ein Blumenkelch öffnen, daß der Herrgott neidisch werden und ein alter Achtundsechziger/Feminist sofort eine zornige Rede über Körperpolitik und die Frau als bloßes Ornament einer dekorativen Macho-Ästhetik halten könnte...

Ist ja auch wahr! Und wenn Berkeleys Damen und Herren dann nicht nur nicht tanzen, sondern fast marschieren, kann einem schon ein bißchen blümerant werden. Und dann sehnt man sich nach Fred Astaire und Ginger Rogers und beginnt von „The Gay Divorcee“ (1934) zu schwärmen... Hören Sie auch diese Melodie? Das ist doch „Night and Day“ von Jacobs Kaffee, nein: Cole Porter, und da ist ja auch unser Paar, wie es über den spiegelnden Marmor gleitet, Astaire im Frack, Rogers im weißen Abendkleid – „Night and day, you are the one, only you beneath the moon and under the sun“, und Ginger, die aus vielen Gründen und weil es so im Drehbuch stand, abweisend und kratzbürstig zu Fred sein muß, schmilzt dahin, und wir schmelzen mit.

Und dann tanzen und singen sie „Heaven, I'm in heaven, and my heart beats so that I can hardly speak, and I seem to find the happiness I seek, when we're out together dancing cheek to cheek“ – halt, stopp, das ist von Irving Berlin und aus „Top Hat“ (1935), aber das ist so eine Art Remake von „The Gay Divorcee“, weshalb wir beide Filme zusammenwerfen dürfen, und Edward Everett Horton spielt ja auch wieder mit. Daß Fred unter einer geheimnisvollen Krankheit leidet – „Immer wieder stelle ich erstaunt fest, daß ich plötzlich tanze“ –, ist für uns ein Glück, gibt es doch in „Top Hat“ eine Reihe überirdische Step-Einlagen, und daher summen auch wir „Heaven, I'm in heaven“, weil es die lautere Wahrheit ist. Ach ja.

Was wäre noch alles zu erzählen: daß der riskanteste Reim des Frederick Austerlitz, so sein bürgerliche Name, lautet: „Ich will mich nick exkusen, ich lieb' ein großen Busen“ (aus „The Band Wagon“); daß er seiner besten Partnerin Klasse gab, und Ginger gab ihm, dem schmächtigen Mann mit dem vertrockneten Gesicht, Sex; daß er wie kein anderer verkörpert, womit Amerika die Welt erobert und verzaubert hat, bis heute: das Kino und die populäre Musik, und wenn beides im Tanz verschmilzt, haben wir ein Musical (prima Definition!); oder das erste Hollywood-Gutachten über ihn: „Can't act. Can't sing. Sightly bald. Can dance a little“, was uns Glatzköpfe aufseufzen und hoffen läßt. Wenn Astaire zu tanzen beginnt, hat die gute alte Schwerkraft ausgespielt, dann schweben wir, dann fliegen wir, und Trauer und Vergänglichkeit fallen ab von uns. Wer das Eskapismus nennt, hat Recht und nichts verstanden; denn es handelt sich um nichts anderes als: konkrete Utopie (im Blochschen Sinne), jawoll.

Und was ist mit Gene Kelly und und und? Leider ist unsere Sendezeit fast zu Ende, aber zuvor möchte ich noch meinen Eltern danken für die wunderbare Kindheit in unserem Kino, den „Altenwerder Lichtspielen“; außerdem meiner Producerin, ohne deren Glauben an meine Visionen ich heute nicht hier stünde. Danken möchte ich auch meinen Lesern – Ihr wart ein wundervolles Publikum! Selbst den Cineasten rufe ich zu: Keine Feindschaft wegen Godard – ich liebe Euch doch alle! Ich muß jetzt gehen, aber vielleicht, wer weiß, nicht für immer (beginnt volles Rohr zu singen): „We'll meet again, don't know why, don't know when...“ (Das Publikum löst sich blitzartig aus seiner Erstarrung und beginnt harte Gegenstände auf den Sänger zu werfen. Eiliger Abgang.) Kurt Scheel