Hochexplosive Ereignisse

■ "Berlin 1945 bis 1989": Chronik der geteilten Stadt im Argon-Verlag erschienen. Die Stadtgeschichte ist eine Ansammlung von Explosionen und fliegenden Fetzen

Wir wissen doch: Unser aller Gedächtnis ist von beginnendem Alzheimer oder Rinderwahnsinn durchlöchert, und deshalb gibt es Nachschlagewerke und Chroniken. Das neueste heißt „Berlin 1945 bis 1989“, ist im Argon-Verlag erschienen und verzeichnet für jedes Jahr die wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in der geteilten Stadt.

In welchem Jahr fand die Explosion auf dem Alexanderplatz statt, die zwei Tote und mehr als hundert Verletzte forderte? „Am 16. März“, so heißt es im Buch, „zündet ein Polizist im Berliner Polizeipräsidium am Alexanderplatz versehentlich eine Handgranate und wirft sie in Panik auf einen Stapel im Hof gelagerter Munition.“ Womöglich hat ihm die Architektur nicht gefallen. Die Residenz der Polizei ist jedenfalls weitgehend kaputt, Hunderte von Häusern in der Nachbarschaft sind beschädigt. Im Jahre 1946 dürfte der im gesamten Stadtgebiet zu hörende Knall die kriegstraumatisierten Berliner in Angst und Schrecken versetzt haben.

Kaum weniger explosiv war das Werkeln des späteren „Helden der Arbeit“, Hans Garbe. Wissen Sie, in welchem Jahr dieser wahnsinnige Ofenbauer über mehrere Wochen Schlagzeilen machte? „Um größere Produktionsausfälle zu vermeiden“, so heißt es in der Chronik, „erklärte sich Hans Garbe bereit, die notwendige Generalüberholung beim einzigen noch funktionstüchtigen Ringofen im SAG-Betrieb Siemens-Plania in Lichtenberg bei laufender Produktion vorzunehmen.“ Im Jahre 1950 war die Arbeiterklasse offenbar noch bereit, für den Kommunismus dahinzuschmelzen.

Welche Seite des 287 Seiten starken Buches man auch aufschlägt – ständig fliegen die Fetzen. „Seit dem 19. November erscheint mit der BZ in Berlin wieder ein Boulevardblatt“, obwohl „zahlreiche Politiker, Journalisten und Verleger“ gegen die Lizenzierung durch den amerikanischen Hohen Kommissar Bedenken erhoben hatten, vermeldet die Chronik. Titelgeschichte der BZ-Erstausgabe vom 19.11.1953: „Nur einen von sieben Arbeitern bewahrte das Schicksal vor dem Tode, als auf Fort Foch bei Straßburg Hunderte von Tonnen Munition mit atomarer Gewalt in die Luft flogen.“ Es knallte und rummste jedoch vor allem wegen der Teilung der Stadt. 1950 ließ die SED-Regierung das Stadtschloß sprengen, 1951 zogen 10.000 FDJ-Anhänger nach Westberlin und lieferten sich eine Straßenschlacht mit Gegendemonstranten, 1953 schossen sowjetische Panzer auf aufständische Arbeiter, 1959 rissen Westberliner Polizisten die DDR-Flaggen auf Westbahnhöfen der Reichsbahn hinunter, 1961 standen sich US- und SU-Panzer am Checkpoint Charlie direkt gegenüber.

Damals war gruselig, was beim Durchblättern der Chronik heute seinen pikanten Reiz hat. Trotz einiger Schlampereien – Richarda Huch mutierte zur Ricarda Huck und ähnliches – ist das 58 Mark teure Buch also durchaus geeignet zur wohligen Lektüre unterm Weihnachtsbaum. Ute Scheub