Lindenstraßenseelenwahrheit

■ Theater im Zimmer: Hans Niklos inszeniert Lars Noréns Familienentlarvung „Herbst und Winter“

Vater, Mutter, Tochter eins, Tochter zwei – Familientreffen. Man ißt zu Abend, sitzt noch beieinander, nimmt erst noch etwas Obst, trinkt dann noch einen Kaffee, plaudert. Mag sein, daß der Vater ein wenig zuviel trinkt. Mag auch sein, daß die Mutter etwas zu sehr auf einen schön netten Ablauf des Abends achtet. Und Tochter zwei, Ann, die jüngere der Töchter, immerhin auch schon 38 Jahre alt, sie wirkt manchmal so merkwürdig wütend, rebellisch geradezu, und benutzt sowieso ein entschieden zu dreckiges Vokabular. Wohingegen Tochter eins, Eva, 43, mit ihrem gehetzten Yuppieleben so zufrieden, wie sie anfangs tut, nicht sein kann. Aber letztlich bleibt alles im Rahmen. Eine Familie, die nicht viel anders ist als andere Familien auch, verbringt einen Abend miteinander. Es ist gemütlich, es ist unverbindlich – es ist furchtbar.

Denn natürlich ist so ein Familientreffen der passende Ort, an dem bisher Verdrängtes, Unausgelebtes, Unterdrücktes zur Sprache kommt – nur um erneut unterdrückt zu werden. Der schwedische Autor Lars Norén, der vor einigen Jahren die deutsche Theateröffentlichkeit mit seinem Stück Dämonen ordentlich erschreckte, hat in Herbst und Winter eine solche Szene beschrieben. Hans Niklos hat sie jetzt im Theater im Zimmer solide inszeniert, sie weder der Peinlichkeit eines gut gemeinten, schlecht gemachten Betroffenheitstheaters ausliefernd noch sie in eine funkensprühende, mitreißende Familienvernichtungsschlacht verwandelnd. Zu einem Drittel ist die Aufführung so, als schaute man bei den Nachbarn (oder bei der Lindenstraße oder bei sich selbst) ins Fenster, zu einem weiteren Drittel, als schlüge jetzt merkwürdig unpassend ein Problemtheater von irgendwann dazumal zurück, zu einem dritten Drittel langweilt man sich, und irgendwo dazwischen wird ab und zu ein Stückchen Seelenwahrheit geöffnet. Nun ja.

Wenn bisher beim Lesen dieser Zeilen der Eindruck entstanden sein sollte, weder Stück noch Inszenierung hätten uns richtig vom Stuhl gehauen, so hat das schon seine Richtigkeit. Schließlich folgt die subtile Kunst der Familienentlarvung und der Trauer über ein ungelebtes Leben einer zu altehrwürdigen Tradition, als daß wir eine ernsthafte und unironische Darbietung dessen als neuesten Hit verkaufen könnten. Aber dann sprach uns nach der Premiere im Bus eine Dame an – Pelzjacke, unauffällig getönte Haare – und fragte uns, wie wir das Stück gefunden hätten. Also, sie wisse ja, daß es in manchen Familien tatsächlich so zugehe, aber sie hätte es lieber gesehen, wenn das Ganze etwas feiner ausgedrückt gewesen wäre. Da fanden wir die Aufführung wieder ganz in Ordnung. Mag sein, daß sie nicht eben innovativ ist; die von ihr geschilderten Verhältnisse sind es aber auch nicht. Insofern sind sie selber schuld. Dirk Knipphals