Versuchungen eines Quartalsheiligen

Saufen macht Spaß, bloß fehlt manchmal später ein Stück Film – oder jemand geht unbemerkt hops: Im letzten Teil seiner Holland-Tetralogie erzählt Adrianus F. T. van der Heijden die Räusche eines Anwalts in Amsterdam  ■ Von Niels Werber

1985. Für Amsterdam ist es das Jahr der Hausbesetzer, der Postpunks, der gewaltsamen Räumungen, der Demonstrationsverbote, des Krakeralarms, der fliegenden Steine und Molotowcocktails, der Verletzungen von Ordnungshütern und des Todes eines jungen Hahnes. „Hähne“, das sind jene Subkulturkids, deren ausrasierte und sichelförmig abstehende Haare einem grellgefärbten Hahnenkamm ähneln. Sie haben ein ehemaliges Untersuchungsgefängnis besetzt, aus dem das Reich sie vertreiben lassen will.

Meester Ernst Quispel, der Anwalt der Hähne, hat alle Rechtsmittel ausgeschöpft, ohne die Räumung verhindern zu können. Die Punks, statt friedlich Frisurtips (Zuckerwasser, Stärke oder Gel?) auszutauschen, mutieren zu Kampfhähnen, die mit hochgestelltem Kamm den Feind erwarten. Eine Weltkriegsflak vom Militariahändler wartet einträchtig mit einigen hundert Flaschen Benzin- Diesel-Mischung auf den Einsatz gegen Helme, Schilde und Tränengas.

Auf einer Dachterrasse sitzt die linke Prominenz: der völlig betrunkene Quispel und sein heroinsüchtiger Freund Albert Egberts, der berühmte Dramatiker, und bewundern das erhabene „Schauspiel“ einer fachgerechten Räumung. „Schön bewegt sich alles“, freut sich Quispel über die Wogen der Einsatzpolizei und die Brandung der Symphathisanten. Egberts glaubt, „ein künftiges Stück“ anzusehen. Scheinbar unbeteiligt, eingepackt in die Watteschicht der Drogen, bewundern Quispel und Egberts die interessante Selbstreferenz eines „Widerstands um des Widerstands willen“, der dadurch schön wird, daß seine Vergeblichkeit feststeht. Beide werden diese teils zynische, teils sentimentale Distanz aufgeben müssen, weil sie ungewollt von Beobachtern zu Teilnehmern werden.

Das Buch des 44jährigen niederländischen Autors Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden ist der vierte Teil einer Tetralogie der Niederlande und zugleich ein spannender, in sich abgeschlossener Roman, der trotz des wunderbaren Autornamens kaum manieriert ist. Sein erster Teil besteht aus zwei ineinander montierten Chronologien aus der Perspektive des Anwalts: Die erste beginnt am Montag, den 29. April 1985 und reicht bis zum 20. Mai; die zweite, aber frühere, startet am 11. April 1985 und endet am 25. April. Der Fluchtpunkt sind die fehlenden Tage dazwischen. Die Episoden stammen abwechselnd aus beiden Reihen, so daß man nur zu Beginn weiß, was soeben passiert, aber entweder nicht, was davon wichtig ist, oder aber die Folgen nicht abschätzen kann. Eine Serie beginnt mit den Vorbereitungen zu einer gewaltigen Sauftour, die andere mit einem höllischen Kater des Helden. Dies muß an Kausalität erst einmal genügen.

Der rote Faden der Kontinuität, an dessen Richtschnur man erst aus der Fülle der Ereignisse eine Geschichte abstrahieren könnte, wird für den Leser erst am Ende des Romans sichtbar. Vorher weiß man nicht genau, was folgenschwer oder folgenlos ist, wohin dieses oder jenes führen könnte. Das macht nichts, denn Quispels Leben ist auch zusammenhanglos interessant und wird gut präsentiert: seine Quartalssauferei, die sogenannte Dipsomanie, seine Kontaktanzeigenaffären, sein Fremdgehen, sein Konsumrausch, sein Hausmeister, seine Kommentare und Halluzinationen über Liebe, Heirat, Schwangerschaft, sein erstes Mal mit einem Mann, seine gebildeten oder begabten, allesamt exzentrischen Freunde.

Der Leser, der trotz allem noch an die Narration glaubt, wird vom Mangel an Gewichtung oder Bewertung des Geschehens zu derselben Aufmerksamkeit für alle Dinge gezwungen, die Quispels Blick permanent auszeichnet: „Wenn das Leben etwas völlig Einmaliges und Endliches war, dann durfte seine Aufmerksamkeit niemals nachlassen.“ Nichts darf seiner stets geschäftigen wie gleichgültigen Wahrnehmung entgehen, „nichts, mochte es wichtig oder unwichtig sein“. Mit dem narrativen Trick der Vor- und Rückblenden versetzt uns van der Heijden in die intensive wie zerstreute Wahrnehmungswelt seines Flaneurs.

Nur soviel sei gesagt: Die zweiwöchige Sauftour führt Quispel schließlich als Zuschauer des Räumungsspektakels auf die Dachterrasse; vier Tage später, beinahe vernichtet vom schweren Kater, übernimmt er den Fall eines Ehepaares, dessen Sohn bei der Räumung verhaftet wurde und anschließend im Untersuchungsgefängnis verstorben ist – an einer Überdosis Heroin, wie die Polizei suggeriert, oder an den Folgen eines „Stupsers“, wie die Hähne und Kraker zu wissen glauben. Vier Tage fehlen in Quispels Chronik, es sind die entscheidenden. Was sich dort tatsächlich ereignete und welche Folgen das haben wird, erzählt die zweite Hälfte des Romans.

„Der Anwalt der Hähne“ begeistert nicht nur als ein raffiniert gebauter Kriminalroman, dessen Fall Anteilnahme und Neugier weckt, dessen Lösung dann überraschend wie plausibel ist; das Buch enthält auch eine Phänomenologie von Quispels seltener Krankheit. Denn der Anwalt, Spitzname „Dip“, ist ja selbst ein Fall, ein sporadisch „abtauchender“ Quartalssäufer ohne Limit. Ganz wie geheilte Alkoholiker trinkt Quispel nicht einen Tropfen – mit der Ausnahme einer etwa 20tägigen Auszeit, seinem ganz speziellen Urlaub von Ich, Beruf, Familie. Seine „Euphorie“ macht aus Amsterdam eine einzige Kneipe und aus seinen Bürgern nicht Saufkumpane, sondern Empfänger des unendlich scheinenden Glücks, das Quispel verströmt.

Quispels Glückseligkeit stellt sich noch in seiner trockenen Periode ein; beschwingt tätigt er leichtsinnige Einkäufe, läßt sich Anzüge maßschneidern, kauft seiner kleinen Tochter ein sündhaft teures Geschenk. Diese Phase gibt ihm einen Vorwand, um viel Bargeld abzuheben, viel zuviel, um es im Konsumrausch zu verjubeln.

So bleibt Geld über zum „Tauchen“ in unzählige Wodkas, die seine enthusiastische Stimmung verstärkt und konserviert. Quispel macht seine Euphorie zum Halbgott, zum „Quartalsheiligen“, der mit den Sterblichen nichts mehr gemein hat, denn sein Glück ist vollkommen. Er ist unwiderstehlich, gewinnt Fälle leicht wie Frauen.

Der Alkohol macht ihn „hellsichtiger, euphorischer, eloquenter und scharfzüngiger, witziger, gebildeter, streitlustiger“. Die Wahrnehmungsschärfe erreicht ein Höchstmaß, seine Einfälle im Gespräch und im Sex sind originell wie bizarr. Er gefällt, er surft auf einer Woge umfassender Sympathie.

Quispel erreicht eine bessere, „höhere Lebensform“, bis die Hochphase ausebbt und die Drinks nicht mehr anfeuern, sondern schlicht betrunken machen. Der Kater nach diesen Wochen des Glücks gleicht einem Entzug und dauert Tage. Der aufmerksame Quispel erlebt die Hölle seines „Auftauchens“ mit der üblichen Intensität. Danach beginnt wieder für zwölf oder 15 Monate der Alltag.

Für einen gewöhnlichen Alkoholiker hält er sich nicht. „Seine alljährliche Eskapade war eine notwendige Teufelsaustreibung, die ihn zu einem besseren Ehegatten, einem besseren Anwalt, einem besseren Vater machte.“ All die Biere, Weine, Sekte und Schnäpse, alle Ausfälle, Eskapaden und Krisen, die der Normalsterbliche auf 365 Tage im Jahr verteilt, kondensiert Quispel auf zwei bis drei Wochen des Exzesses. Bis auf sehr wenige Passagen wird van der Heijdens Roman der Intensität seines Helden gerecht. Und wenn der Anwalt melancholisch seinen Kater kuriert, hält der Kriminalfall den Leser weiter unter Strom. Schnell süchtig geworden, verfolgen wir ihn bis an sein Ende. Dann wartet auf uns ein Kater. Der Rest der Tetralogie sollte schnellstens übersetzt werden.

Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden: „Der Anwalt der Hähne“. Suhrkamp, 620 Seiten,

58 DM