Sie nannten es Rock'n'Roll

■ Das allerneueste Testament: 40 Jahre Rock-Geschichte in Hochglanz-Bildern

Nach Format, Gewicht und verwendeten Schrifttypen ist dieses Buch eine Bibel. Von den Bildern her erst recht. „Bibel“ meint: Den Versuch der Kanonisierung apokrypher Quellen zu einem Korpus an Überlieferung, der den vergangenen Labsal sein soll und kommenden Generationen Zeugnis. Erzählt wird in Bildern, „die jene Kraft ins rechte Licht setzen, mit der die Künstler unsere tiefsten Gefühle ansprechen“. Eine Schöpfungsszene gibt es auch: „Der Blues bekam ein Baby, und sie nannten es Rock'n'Roll.“

Der Satz stammt aus der Offenbarung des Muddy Waters. „Gesichter des Rock'n'Roll“, die hochglänzende, vom Rolling Stone-Magazin edierte Foliantenwerdung von 40 Jahren Rock-Geschichte, zeigt ihn als Buddha aus der Vorstadt, Glanzbildchen aus Gründerzeiten, als die Rockfotografie ihren Objekten noch nicht allzusehr auf die Pelle rückte – und diese sich im Gegenzug in voller statuarischer Größe (du darfst auch „Aura“ dazu sagen) darboten. Aber von Waters stammt auch die Zeile mit den rollenden Steinen. Vier Seiten später ist schon Elvis-Age, Ausgangspunkt einer Bilderfolge „gleich einer unkontrollierbaren Odyssee durch Harmonien, Images und Jugendrevolten“.

Wen der betuliche Legendenton nicht abschreckt (vielleicht, weil er Rock'n'Roll immer noch für Musik zur Zeit hält ...) und darüber hinwegsehen mag, daß hier eine real existierende Rockisten-Zeitschrift den Anspruch auf testamentarische Erzählung erhebt, findet in dieser Fotobibel immerhin eine ganze Reihe von Meditationsanlässen hinsichtlich Race, Gender, Body Politics – allem, was in den vergangenen Jahrzehnten so los war: Bob Dylan, wie er Joan Baez in Greenwich Village lustig die Haare bügelt. Brenda Lee und Iggy Pop, die, 17 Jahre voneinander und rund 70 Jahre von der Entdeckung durch Sigmund Freud getrennt, den klassischen „hysterischen Bogen“ beschreiben. Brian Wilson als solipsistisches Drugstore-Monster („Junggesellenmaschine“?). Die Allmann Brothers, langhaarige, im Kern konservative Südstaatler, verewigt als Bruderhorde mit einem Schwarzen in der Mitte, und die Eagles mit dem melancholischen Gegenbild: gefesselte, rein weiße Desperados in Sacco-&-Vanzetti-Pose. Carole King als Inbild der rüstigen, alleinstehenden Selfmadewoman und Courtney Love, stolze Mutter des Stammhalters eines toten Königs. Björk schließlich als Pflanzenwesen, vom Begleittext in ein paradiesisches Licht gerückt: „Und sie waren beide nackt, der Mann und die Frau, und sie empfanden keine Scham“ (dabei streckt sie die Zunge raus).

Der Sündenfall der Rockfotografie ist nicht datierbar, aber er geht einher mit einer Komplizenschaft zwischen Objekt und Objektiv, die immer klarer auf Publikationseffekt und Verkaufsargument hinarbeitet. Mick Fleetwood und John McVie als ergrautes Ehepaar in Rock, mit Schleier und allem Drum und Dran von der ebenso infamen wie kapitalistisch-realistischen Annie Leibovitz in Szene gesetzt; oder Bono, „kongenial“ „abgelichtet“ als Rockmillionär in der Schaumbadewanne mit Sonnenbrille und Zigarre (aus der Kamera von Anton Corbijn), eine „ironische“ Travestie des Mainstream- Status-quo in den beginnenden Neunzigern, zugleich ein absolutes, durchkalkuliertes Rockprofifoto – kein Knipserauge kriegt das in dieser Potenzierung mehr hin, keines darf in diese surreale Nähe überhaupt kommen, das nicht zugleich das Auge eines potentiellen Attentäters wäre.

Ein Gutteil der abgebildeten Figuren, mögen sie der Kamera auch noch so energisch den Stinkefinger zeigen, ist mitterweile tatsächlich tot oder scheintot – von Buddy Holly bis Lennon, von Bryan Ferry über Alice Cooper bis Perry Farell. Ein Sachverhalt, den man (mit einem Rest an gespendeter Libido) auch so lesen kann: Legendäre Typen wehren sich im Bild gegen die Totenmaske, die die Verwertung ihnen aufdrückt. Überlebt haben sie aber komischer- wie logischerweise nicht als Individuen, sondern als Personal, wie es heute jeder Betrieb, der was auf sich hält (so auch die taz), beheimatet. Gene Vincent sieht aus wie Rainer vom Abo, Jim Morrison (Spätphase) präludiert Öko-Tenhagen, und Axl Rose hat, Geschlechterdifferenz hin oder her, Frisur und Statur von Steffi vom Layout.

Das letzte Bild im Album zeigt Rapper Ice-T, den Mund von einem Stück Klebeband verbunden. Allegorie!!?? Ist der HipHop die in der Fotobibel unterdrückte Rede eines illegitim beerbten Schwarzen? Oder doch nur die Fortsetzung des Rock'n'Roll mit anderen, zeitgemäßeren Mitteln? Kommt irgendwann noch die ganz große Bescherung? Das Bild selbst verrät es nicht. Der „Rolling Stone“ schon gar nicht. Aber bekanntlich streiten sich die Schriftgelehrten in diesem Punkt ja auch noch. Thomas Groß

Rolling Stone: „Gesichter des Rock'n'Roll“, Edition Olms, Zürich, 260 S., 68 DM