Lauf, Konrad, lauf!

Mit 78 Jahren war der pensionierte Bahnbeamte Konrad Völkening aus Fuldabrück einer der ältesten Teilnehmer des größten Marathonlaufes der Welt  ■ Aus New York Merle Hilbk

Schieß doch; schieß doch, Starter, schieß und schick ihn in die Hölle! Laß' ihn die Straße spüren, fünf Stunden, fünfeinhalb; wie sie seinen Körper attackiert, bis die Muskeln hart und die Bänder steif sind und schmerzen: „Plock! Plock! Plock!“, 42,195 Kilometer. 120 Schläge in der Minute, 7.200 in der Stunde, 40.000 auf der ganzen Strecke.

Völkening steht unten, wie ein einsamer, weißer Punkt am Aufstieg zur Verrazano-Brücke. Noch kleiner als sonst wirkt er im eisigen Wind, der vom Hudson heraufweht – zusammengekrümmte 1,66 Meter in Waffelpique-Hemd und Stretchhose. Die Adern an den Waden treten bläulich hervor, die Augen hinter der schweren Metallbrille sind gerötet. Nein, nein, die Kälte macht ihm nichts aus, sagt er und zittert. Jawohl, das erste Mal in New York, das ist schon ein Ereignis. Auch wenn er hier eigentlich gar nicht laufen wollte. Der Vereinsvorsitzende hatte bestimmt: „Konrad, in New York mußt du laufen! New York ist das Größte!“ Und Konrad Völkening hatte gebucht.

Die anderen Läufer drängen sich dicht zusammen. Einige haben Müllsäcke übergestreift, die vom Wind aufgebläht werden wie Luftballons. Ganz tief unten zieht ein Motorboot feine Schlieren durch den Hudson. Die Läufer jonglieren mit den Hüften wie Hula-Hoop- Mädchen, schütteln die steifen Gelenke. Dieses Warten! Die Fotografen, die ihre Objektive starr auf die Startlinie gerichtet haben, fluchen. Warum, verdammt noch mal, ist es in diesem Jahr so kalt in New York? Die 28.000 hinter der Startlinie sind kaum noch zu bändigen. Um Himmels willen, Starter, laß' sie losrennen!

Bewegunglos verharrt Konrad Völkening am Rand des Feldes. Am Rand bläst der Wind am stärksten. Die Arme sind steifgefroren, ja, die Beine auch. Aber sich mitten in die Menge stellen und spüren, wie sie vor Nervosität vibriert? Nein, nein. Konrad Völkening will sich nicht von dem Fieber der anderen anstecken lassen. „Wer seinen Gefühlen freien Lauf läßt, bleibt auf der Strecke.“

Wozu auch fiebern? Ein Marathon ist nichts anderes als ein langes Asphaltstück, das den Körper durchschüttelt wie eine Betonmischmaschine. Das war vor 17 Jahren so, als Völkening im hessischen Senstenstein 4:32 Stunden lief. Das ist heute nicht anders, wo er am Start des größten Marathons der Welt steht. Mit 78 Jahren.

Da, der Startschuß! Ein sanftes „Päng“, viel zu leise für die hinteren Startreihen. Die 2:20-Läufer – hohlwangige Gestalten, deren Muskelstränge sich scharf unter der Haut abzeichnen – hetzen über die Brücke. Unruhe kommt in die Menge. Da vorne laufen sie ja schon! Die hinteren Startreihen drängen nach. Vier, fünf Minuten später ergießt sich das Hauptfeld auf die Brücke. „Come on, man. You're a winner!“, brüllen die Polizisten Völkening nach. Völkening antwortet nicht. Er konzentriert sich auf seine Schrittlänge.

Das Wichtigste beim Laufen, hatte er gestern mittag auf dem „Times Square“ erklärt, das Wichtigste sei, den eigenen Rhythmus zu halten. „Strecke? Gegner? Zeit? Können Sie vergessen! Wer schaut, was die anderen machen, verliert seinen Rhythmus.“

Den Rhythmus, den das Leben seinem Lauf wie einen Stempel aufgedrückt hat: Acht Stunden im Stellwerk mit den Dienstplänen und dem gleichmäßigen Rattern der Züge. „Beamte“, hatte sein Vater nach dem Krieg gepredigt, „Beamte zählen was in unserem Staat.“ Deshalb ist Konrad Völkening 35 Jahre lang in die Bundesbahndirektion Hannover getrottet. Hat acht Stunden am Tag das Eintreffen der Züge berechnet. Drei Häuser hat er gebaut, mit eigenen Händen, und sich nichts gegönnt. Eines Tages setzte sich dann dieser Traum in seinen Kopf: Einen Wohnwagen kaufen und für vier Wochen verreisen. Einmal weg aus dem kleinen Wunstorf, ein einziges Mal nach 30 Jahren. Seine Frau war dagegen, wie immer. Völkening blieb. Jahre später wurde er geschieden. Dann pensioniert. „Endlich“, dachte er. „Das erste Leben ist überstanden.“ In der Kur in Bad Pyrmont lernte er eine Frau kennen. Die zweite Heirat, der Umzug nach Fuldabrück, da wollte seine Frau hin. „Schöne Landschaft, da unten im Hessischen! Aber ein bißchen einsam!“

Er suchte Anschluß: Im Schützenverein, bei der Freiwilligen Feuerwehr. Doch das war nichts für ihn: „Die haben nur gefeiert und getrunken.“ Da blieb nur noch der Laufverein, „LTG Fuldabrück“. Den ersten Lauf seines Lebens machte er mit 61. Vier Kilometer ohne Gehpause. Und weil Konrad Völkening in seinem ganzen Leben noch nie mit etwas aufhören konnte, was er angefangen hat, lief er einfach weiter. Wie eine Maschine, bei der der Ausschalthebel klemmte. Nach zwei Jahren der erste Marathon, nach fünf ein 100-Kilometer-Rennen. Und 1988 dann die Weltbestleistung im 24-Stunden-Lauf. Weit herumgekommen ist er im „LTG“-Trikot: Frankreich, Schweiz, Holland. Einmal ist er sogar in Finnland gelaufen. Der Bürgermeister sprach ihm im Amtsblatt seine Glückwünsche aus, und im Verein begegneten sie ihm mit Hochachtung. Gelaufen ist er immer alleine. Nur zu den Wettkämpfen, da haben ihn die anderen mitgenommen. „Konrad, du mußt doch gewinnen für uns“, haben sie gesagt. Und Konrad gewann.

Nach der Brücke hat sich das Feld auseinandergezogen. Franzosen, Holländer, Japaner; mit Flaggen, im Kostüm ziehen sie in Brooklyn ein. Ein Schwarzer balanciert eine achtstöckige Torte auf dem Arm. Die Zuschauer vor den schmalen Reihenhäusern reichen Apfelschnitze und Bananen in die Menge. Bei Kilometer sechs trinkt Konrad Völkening das erste Mal. Seine Augen liegen tief in den Höhlen, doch er atmet gleichmäßig.

„Good job, men!“ feuert die dicke Frau an der Bedford Avenue die Läufer an. Die Gruppe Italiener vor Völkening schiebt sich dicht an den Zuschauerreihen entlang. „New York, beautiful, beautiful!“ Sie lachen, schütteln Hände. Auf Völkenings Gesicht hat der Schweiß eine Salzkruste hinterlassen. „Da war was los, in Brooklyn. Italiener, Mexikaner, Russen, alle haben sie uns zugejubelt.“ Kilometer 21, die Halbmarathon-Marke. Der Blick zur Uhr. Alles o.k., nicht zu schnell.

Bei Kilometer 32 kommt der große Hammer. Die Glykogenreserven in den Muskeln sind aufgebraucht. Der Körper schaltet auf Fettverbrennung um, und das tut weh. Verdammt weh! Die Lungen brennen von der kalten Luft. Völkening atmet mühsam. Die Oberschenkel schmerzen; morgen früh sind sie bestimmt steif. Der Kopf fühlt sich an, als ob innen lauter Watte wäre. Die Umgebung verliert an Kontur. „What's up, guy? Come on, come on!“ rufen die Streckenposten Völkening entgegen. Er läuft, als hätte er einen Stock verschluckt, mit steifem Oberkörper und eckigen Bewegungen. Doch er wird nicht langsamer. Sechs Minuten pro Kilometer. Und keine Minute mehr.

1.000 Läufer sind bereits ausgestiegen. Beim Anstieg zur Queensborough-Brücke geben wieder ein paar auf. Sie trudeln auf die Absperrungen zu, reißen die Startnummern vom Trikot und winken einen der Helfer herbei. Die Helfer vom Road Runners Club wissen genau, wie sie in einem solchen Fall zu reagieren haben: freundlich, sachlich; auf keinen Fall mitleidig. Denn es sind nicht so sehr die kaputten Beine, die den Aussteigern zu schaffen machen. Den Kampf gegen sich selbst verloren zu haben, das schmerzt im ersten Moment viel mehr.

Völkening hat diesen Kampf noch nie verloren. Nicht auf der Laufstrecke und nicht im Leben. Sein Vater hat ihm beigebracht, wie das geht – sich gegen sich selber zu wappnen: arbeiten, arbeiten, so lange wie möglich. Nicht zu viel nachdenken über das Leben. Und bei Gott – sich niemals seinen Gefühlen hingeben! Denn Gefühle sind unberechenbar: Plötzlich packen sie dich und werfen dich hinaus aus dem mühsam aufgebauten Regelwerk, das dich so sicher gewappnet hat gegen das Chaos des Lebens.

Völkening nimmt den Anstieg zur Queensborough-Brücke mit unbewegtem Gesicht. Hinab, immer hinab in die Häuserschluchten von Manhattan! Downtown werden die Läufer von einer Traube Menschen empfangen, die in Schals und Anoraks gehüllt an der Ecke First Avenue/60ste Straße frieren. Downtown, da sitzt das Geld und die Macht. Die Wall Street, das Empire State Building, die UNO. Wie winzig der Läuferbandwurm auf einmal erscheint! Die Sonne hat sich durch die Wolken gekämpft. Im Zickzack schwimmen die Strahlen über die Hudson Bay und brechen sich an den Glasfassaden der Hochhäuser.

Völkening ist wieder fit. Sein Arzt zu Hause wird staunen. „Völkening, Sie sind ein medizinisches Wunder“, wird er wie immer sagen, und Konrad Völkening wird dastehen und hoffen, daß das Wunder noch ein paar Jahre anhält. Denn Bestzeiten zu laufen, darum geht es mit 78 nicht mehr. Mit 78 will man dem Tod noch ein paar Jahre abringen und das Leben spüren, wie es mit 110 Schlägen in der Minute durch den welken Körper pulsiert.

Schon wieder eine dieser Brücken, verflixt. Die Brücke führt in die Bronx, vor der der Reiseführer Völkening und die anderen Deutschen im Flughafenbus gewarnt hatte. Völkening läuft schneller. Dann kommt auch schon die Fifth Avenue. Was für eine elegante Straße! Die ganzen Museen, die Wohnungen der Stars; sogar Jackie Kennedy hatte hier eine, nur einen Kilometer vom Ziel entfernt.

Germán Silva und Tekla Loroupe, die Helden der 42,195 Kilometer, werden im Ziel seit drei Stunden frenetisch gefeiert: „Bravo, bravo“-Rufe, Blumen, Küßchen rechts, Küßchen links, an die hundertmal; und 80.000 Mark Preisgeld für jeden, plus einen 35.000 Mark-Jeep. 1.800 Mark hat Konrad Völkening der Marathon gekostet. Nein, er macht sich wegen des Geldes keine Sorgen; nach 35 Jahren bei der Bahn kann man sich das leisten. Man spart ja sonst, wo man kann. Die Häuser tragen sich von alleine, und die Manchester-Cordhosen halten noch fünf Jahre. Mindestens.

5:38. Ein Zielfoto von der automatischen Kamera. Eine Helferin hängt Völkening die „Finisher“- Medaille um. Die meisten Zuschauer sind schon gegangen. Wo sind die Vereinskameraden? Sie wollten doch auf ihn warten, hinten im Park auf der Wiese. Um halb fünf toben auf der Wiese nur noch ein paar Kinder. Es wird dunkel. Völkening trottet langsam die Eighth Avenue hinunter. Das Hotel Milford werden die Taxifahrer ja kennen, sonst wird es schwierig, so ganz ohne Englisch.

„Konrad, ich versteh' dich nicht“, ruft der Vereinsvorsitzende, als Völkening am nächsten Morgen um halb neun mit festen Schritten den Frühstücksraum betritt, „Konrad, wie du das immer alles schaffst!“ Eigentlich versteht Völkening das selber nicht. Aber in vier Wochen, da wird er seinen nächsten Marathon laufen. Das hat er schließlich versprochen.