„Brinkmann stört wiederholt“

Keine Ruhe um den Nachlaß des 1975 tödlich verunglückten Dichters: In zwei Gedächtnisbänden wird um den Rolf-Dieter-Brinkmann-Vertretungsanspruch gerungen. Gibt es Ähnlichkeiten zum Fall Beatles?  ■ Von Thomas Groß

Im weiten Feld populärer Phänomene muß es doch eine Art von Verabredung geben. Wie sonst wäre zu erklären, daß (cum grano salis) zeitgleich mit der „neuen“ Beatles-Platte gleich zwei Rolf-Dieter-Brinkmann-Gedächtnisbände erschienen sind? Compilation-Bände beide, deren Editionspraxis und Brinkmann-Vertretungsanspruch einige auffällige Gemeinsamkeiten mit der Nachlaßverwaltung der Beatles respektive John Lennons aufweist?

Wir haben: einen Dichter, der seine Gedichte „einfach“ machen wollte („wie Songs“) und noch 20 Jahre nach seinem Unfalltod als einer der wenigen literarischen Undergroundstars der Nachkriegszeit kultisch verehrt wird. Wir haben: ein Werk, das zwar in seinen wesentlichen Brocken veröffentlicht ist, zu dem aber noch zahlreiche alternate versions und Seitenstücke in den Schubladen liegen. Und wir haben: eine Witwe, die genau diesen Nachlaß verwaltet und Unbefugten, Forschern wie Devotionalienjägern, bislang strikt den Zugang verweigert hat.

Daß das der Crew um den Bibliothekar Gunter Geduldig gar nicht schmeckt, ist Brinkmann-Interessierten seit längerem bekannt. Geduldig, Gründer und 1. Vorsitzender der Rolf-Dieter-Brinkmann-Gesellschaft e.V., waltet seines Amtes in Vechta, der Geburtsstadt des Dichters, wo er vor Jahr und Tag mit Studenten und ehrenamtlichen Kräften eine Ausstellung über die frühen Jahre des R.D.B. auf die Beine gestellt hat.

Wer Geduldig kennenlernt, begreift schnell, daß der Mann kein Heißsporn ist. Aber auch nicht ohne Ehrgeiz. Und offenbar wild entschlossen, Vechta zu einem – wie man so sagt – Ort auf der literarischen Landkarte zu machen. Im Vorwort zur nun erschienenen Druckfassung der von ihm und Ursula Schüssler geleiteten Recherchen muß Geduldig zwar einräumen, daß Brinkmann die Stadt, aus der er stammte, haßte wie die Pest (Originalzitat: „viel krüppeliges Grünzeug, katholisch verseucht“) – für den Forscher „kein Grund freilich, anderswo hämisch auf diese kleine Stadt zu zeigen“.

Ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Adresse Maleen Brinkmanns, wohnhaft im urbanen Köln, deren Anspruch auf das Brinkmann- Erbe mittels Klagen im Namen der Wissenschaft („müssen Ausstellungen über Rolf Dieter Brinkmann bruchstückhaft bleiben ...“) und interessiert montierter Forschungsberichte („Witwe blockt prinzipiell alles ab ...“) mehr oder weniger offen hintertrieben wird. Irrtum ausgeschlossen: Geduldig sieht sich als Sachwalter der später ins Genialische ausgeschlagenen roots. Und so wagt er es, das Vechta-Bild in der deutschen Literatur einer umfassenden Relektüre zu unterziehen. Die Kleinstadt im Norden sei Brinkmann „Chiffre für beides“ gewesen: „für Trauma und Trost“.

Wille zur Heimatkunde

Trauma und Trost sind denn auch gleichmäßig verteilt auf den Albumblättern. Unbekümmert um das Verhältnis von Sprachfluß und Wirklichkeit hat die Rolf-Dieter- Brinkmann-Gesellschaft e.V. Realien zur Genese eines waschechten Weltekels herbeigetragen. Wenn Brinkmann in einem Gedicht von der „Panik runter gelassener Rolläden“ spricht, sind auf der Seite Fotografien runtergelassener Rolläden zu sehen. Und wenn Brinkmann in einer Passage seines Spätwerks beiläufig den Namen Konerding erwähnt, zeigt das zugehörige Foto einen Lastwagen, versehen mit dem Hinweis: „Im Hintergrund das Schreibwarengeschäft Konerding und die Samenhandlung Fortmann-Böls, verdeckt durch ein zeittypisches Gefährt.“

Daß so viel Wille zum Heimatkundlichen ständig in der Gefahr schwebt, in Satire umzuschlagen, ist diesem Dokumentationswerk ein hartnäckig unterdrücktes Faktum. Geduldig & Co haben die Klassenbücher des Gymnasiums Antonianum durchforstet („Brinkmann stört wiederholt“), das Wohnhaus am Kuhmarkt 1 abgelichtet, auch das Verhältnis zur Eislandschaft des Nordens, sozusagen Brinkmanns Strawberry Fields, ist eindringlich dargestellt. Die biographische Fährte führt sogar bis hin zu den späten Vechta- Flammen (platonisch!) Elisabeth Piefke und Roswitha Pundsack, mit denen der Ungeliebte eine Aufführung von Borcherts „Draußen vor der Tür“ einstudierte. Bloß das Werk selbst wird mit eher allgemeinen germanistischen Fragen bedacht: „Brinkmann – ein Klassiker der Moderne?“

Ein Beitrag zur Archäologie einer glücklosen Jugend, gewiß. Auch eine unschätzbare Sammlung bislang so nie gesehener Brinkmanniana. Zuzugestehen ist fernerhin: Für diese Frühphase erreicht das schmuckvolle „Bilder- und Lesebuch“ einen Stand der Dokumentation, wie er ansonsten nur für Goethe, Thomas Mann und eben die Beatles vorliegt. Der einzige Nachteil: Im Oldenburgischen bleibt man, wenn man berühmt werden will, sowenig wie in Liverpool. Bedauernd müssen die Forscher sich am Ende der normativen Kraft des Biographischen beugen: „Am 12. Oktober 1958 verließ Rolf Dieter Brinkmann Vechta in Richtung Meppen.“

The Official Bootleg

Das im Rowohlt-Verlag herausgegebene LiteraturMagazin besitzt demgegenüber nicht nur den Vorteil, seit jeher ein Ort der Publikation seltener Brinkmann-outtakes gewesen zu sein, es ist überdies von der Witwe selbst autorisiert. Advantage Maleen Brinkmann: Hier, und nur hier, ist beispielsweise das Gedicht zu lesen, das Brinkmann sich selbst 1962 zu seinem 22. Geburtstag schrieb: „als kind verstand er es / mit vögeln umzugehen / und besaß den schlüssel, verborgene / fischreiche zu betreten. / die zärtlichkeit der bäume / empfing er ohne eitelkeit / und im winter tanzte / er mit dem lächelnden tod über die gefrohrenen [!] flüsse“.

Die Brinkmann gewidmete Nummer 36 des LiteraturMagazins ist etwa zur Hälfte eine Art Official-Bootleg-Album. Es versammelt frühe Tuschzeichnungen des Autors („Feldblumen“), Fotoserien, Briefwechsel, ein paar Faksimiles. Ralf-Rainer Rygulla, mit dem Brinkmann in den Sechzigern eine Art verschworenes Male Couple (Lennon/McCartney?) bildete, hat eine Reihe von „Kollaborationen“ beigesteuert, darunter auch ein Gedicht von 1965, in dem der neue deutsche Popsound sich produktionstechnisch erstmals auf der Höhe der Zeit zeigt: „Der Ajaxsuper / mann hat / die Gasometer aufgedreht ...“

In den Briefen, meist aus der Frühsiebziger-Spätphase, ist, neben Variationen der Brinkmann- typischen Abgesänge auf Gott, Welt und Revolte, verzeichnet, daß der Autor des Nachts „eine volle Bierflasche, wie blöde, gegen einen Wagen des Kölner Stadtanzeiger geschmissen“ hat, sich dabei erwischen ließ und den Polizisten („Sie tragen Sergeant-Pepper- Bärtchen im Dienst“) 300 Mark abdrücken mußte. Aufschlußreich auch die mit Originalzitaten gewürzten Erinnerungen von Hans „Akzente“ Bender, dessen traditionsreiche Zeitschrift Brinkmann mit Gedicht-Einsendungen bestürmte. Windungen eines Althumanisten gegenüber dieser neuen Art von slam poetry: „Alle aufgeführten Titel sagen mir zu – nur möchte ich Gedichte mit ,Fotze‘ und ,Scheiße‘ nicht bringen. Ich finde, durch solche Wörter werden Texte nicht mutiger oder besser. Es sind die eben grassierenden Modewörter ... Diese Wörter üben keinen Schock mehr aus ...“

Brinkmanns Produktionsprinzip, das ganze Leben als Material zu betrachten, mag solchen Hyperrealismus in Sachen Nachlaßverwaltung rechtfertigen; so ganz wohl scheint es Maleen Brinkmann als Herausgeberin aber doch nicht gewesen zu sein. Die Paralipomena und Miszellen werden von einer Dreierstaffel Essays begleitet, die das Gebiet in verschiedene Richtungen (hermeneutisch, texttheoretisch, Genre der „Annäherung“) sondieren.

Lit.-Wiss. & Co

Ambitioniertester Versuch ist „SCHRIFT/BILD/SCHNITT. Graphismus und die Erkundung der Sprachgrenzen bei Rolf Dieter Brinkmann“ von dem Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans- Thies Lehmann. Lehmann leugnet kurzerhand die realistische Qualität in Brinkmanns Texten, begreift sie aus ihrem aggressiven, „vitalistischen“ Impuls heraus: Es geht nicht um Darstellung, sondern um die Kommunikation von Affekten „in den Akten des Einritzens und Einbrennens, Löcherns, Anschneidens und Einreißens“.

Tatsächlich bietet Lehmanns mit allen Finessen der höheren Lit.-Wiss. („doppelte Deixis“, „Erkaltung in der Schrift“ etc.) arrangierter Zugriff die Möglichkeit, den Text aus seinen eigenen Bewegungsgesetzen heraus zu verstehen – was zugleich aber seine Schwäche ausmacht. Statt auf die andere Seite durchzustoßen und etwa Brinkmanns wüstes Traktieren der Schreibmaschine als Pendant zu rockmusikalischen Spielweisen der Gitarre zu begreifen, wird bei Lehmann alles Zeittypische schnell zu Makulatur. Was, äh, aufscheint, ist – wie zuvor schon bei Kafka, Celan, Artaud et al. – bloß eine „sprachlose Rede über die Katastrophe des Menschen“.

Die definitiven Liner Notes zum Brinkmann-Phänomen findet man also auch hier nicht – was wiederum für seine Klasse spricht. Wer meint, er habe zuwenig über das Werk selbst erfahren, muß fürs erste mit dem Hinweis auf dessen inkommensurable Brockenhaftigkeit beschieden werden. Man kann Brinkmanns Bücher, von den „Standphotos“ bis hin zu den späten Materialienbänden wie „Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“, allerdings nach wie vor käuflich erwerben. Leider (noch) nicht in Plattenläden.

Gunter Geduldig/Ursula Schüssler (Hg.): „Vechta! Eine Fiktion!“ secolo Verlag, 100 Seiten, 58 DM

Maleen Brinkmann (Hg.): „Rowohlt LiteraturMagazin 36“, 219 Seiten, 18 DM