Ein Asylrecht ohne Asylbewerber

■ Das Bundesverfassungsgericht wird an der deutschen Asylpraxis wenig ändern

Den Termin für die heutige Verhandlung hätten die Karlsruher Richter schon vor zwei Jahren in ihren Time-Manager eintragen können: Als eine große Koalition aus CDU/CSU/FDP/SPD im Juli 1993 der Asylrechtsänderung den parlamentarischen Segen gab, war absehbar, daß dieses Votum zum nächstmöglichen Termin vorgeladen würde zur Zulassungsprüfung beim Karlsruher Verfassungs- TÜV.

An keinem Bestandteil des Grundgesetzes war zuvor mit so viel Beharrlichkeit und so viel emotionaler Verve gerüttelt worden wie an diesem Artikel 16: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Über Jahre hinweg hatte die CDU/CSU im Verein mit der großbuchstabigen Presse diese europaweit einzigartige „Bastion“ des Flüchtlingsschutzes attackiert: mit Überfremdungsszenarien, fragwürdigen Kriminalstatistiken und offenen Diffamierungen.

Als eine in sich zerrissene SPD nach monatelangem politischem und medialem Dauerbeschuß der Grundgesetzänderung schließlich grünes Licht gab, entstand das, was für eine Normen und Klarheit setzende Verfassung kontraindiziert ist: ein Kompromiß mit Kleingedrucktem im Gepäck. Um jedes Wort hatten Regierungskoalition und SPD miteinander gerungen, doch auf dem Papier stand schließlich eine Regelung, die in Teilen so vage formuliert war, daß jede Seite ihn verschieden interpretieren und als Punktsieg verbuchen konnte.

Um die verfassungsrechtliche Definition der interpretationsfähigen Passagen und um Kurskorrekturen wird es deshalb im wesentlichen gehen, wenn die Asylrechtsänderung jetzt auf dem Karlsruher Prüfstand steht. Die Verfassungsrichter werden zwar über die drei wesentlichen Eckpfeiler des neuen, seit 1993 geltenden Rechts entscheiden. Das alte Asylrecht wiederherstellen werden sie mit einiger Sicherheit jedoch nicht.

Bei der umstrittenen Drittstaatenregelung zum Beispiel könnten die Richter genaue Vorgaben machen, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein Staat als solcher eingestuft werden kann. Die Richter könnten dabei zu der Entscheidung kommen, daß das im konkreten Fall in Frage stehende Griechenland nicht dazugehört, da Asylsuchende, die von Deutschland aus dorthin zurückgeschoben werden, keinen Zugang zu einem geregelten Asylverfahren haben. Am Ende einer Kettenabschiebung könnten sie sogar wieder in ihrem Verfolgerland landen.

Mit einer solchen Entscheidung wäre jedoch noch nicht die gesamte Drittstaatenregelung „gekippt“. Immerhin sieht auch die Genfer Flüchtlingskonvention vor, daß Flüchtlinge in einen Staat zurückgeschoben werden können, den sie auf ihrer Fluchtroute passiert haben, sofern dort ein ordentliches Asylverfahren gewährleistet ist. Daß Asylbewerber ein grundgesetzlich geschütztes Anrecht auf ein Zufluchtsland ihrer Wahl haben, werden die Verfassungsrichter kaum entscheiden. Und an dem geographischen Umstand, daß die Bundesrepublik beinahe hermetisch von solchen sicheren Drittstaaten umgeben ist, können juristische Auslegungen nichts ändern. Die Karlsruher Richter werden Lücken und Schwachpunkte finden. Sie könnten – als übergeordnete Instanz – auch korrigieren, was ihre Kollegen gerade vor vierzehn Tagen entschieden haben: daß es für die Ablehnung eines Asylbewerbers völlig unerheblich sei, durch welchen Drittstaat genau er in die Bundesrepublik gekommen ist. Doch den beiden entscheidenden Problemen der Asylrechtsänderung ist weniger mit verfassungsrechtlichen als mit politisch-moralischen Argumenten beizukommen: der europäischen Praxis, daß über das Schicksal von Asylbewerbern mittlerweile der Fluchtweg und nicht der Fluchtgrund entscheidet, und der Tatsache, daß sich ein hermetisch abgeschirmtes Deutschland zu einem Land mit Asylrecht ohne Asylbewerber machen kann.

Hinter diesen Problemen stehen auch die beiden anderen Streitpunkte in ihrer praktischen Dimension zurück: die Flughafenregelung und die Frage, ob Flüchtlinge aus „sicheren Herkunftsstaaten“ ohne ein Anrecht auf förmliches Gehör abgewiesen werden dürfen. Selbst wenn – was eher unwahrscheinlich ist – das Bundesverfassungsgericht zu der Entscheidung käme, daß eine Auflistung von sicheren Herkunftsländern a priori verfassungswidrig ist, würde sich für die meisten Flüchtlinge immer noch die ganz praktische Frage stellen: Wie sollen sie Deutschland erreichen, ohne durch einen sicheren Drittstaat zu kommen?

Auch ein anderes Problem werden die Richter mit einer verfassungsrechtlichen Prüfung kaum lösen können: So wie die umstrittene Neuregelung des § 218 an den rechtlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz gekoppelt war, so war auch die Asylrechtsänderung mit einem Versprechen verbunden – dem Sonderstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge zum Beispiel. Die Einlösung dieser Versprechen steht bis heute aus. Ein neuer Fall für Karlsruhe. Vera Gaserow