■ Bräutigam nicht mehr Richter über Politbüro-Mitglieder
: Lust auf Verurteilung

K.o. vor Beginn der ersten Runde. Hansgeorg Bräutigam, bis gestern Vorsitzender Richter über sechs angeklagte Mitglieder des SED-Politbüros, hat seinen Posten wegen Besorgnis der Befangenheit verloren. Welche Schmach für einen Mann, dem es doch so sehr darum ging, jene zu verurteilen, die nach seiner Ansicht einem System vorsaßen, das dem des Dritten Reiches „vergleichbar war“. Genau das ist Bräutigams Problem. Allzusehr geht es ihm um eine Verurteilung. „Heute steht die Justiz vor der unglaublichen Bewährungsprobe, das DDR-Unrecht aufzuarbeiten. Es obliegt im wesentlichen der Strafjustiz“, meint Bräutigam. Bei seinen Äußerungen in der Öffentlichkeit vergißt er immer wieder seine höchste – um nicht zu sagen heiligste – Pflicht: die zur Unvoreingenommenheit. Auch in dem Prozeß gegen Erich Honecker war ihm seine offenkundige Verurteilungslust zum Verhängnis geworden, auch dort mußte er wegen Befangenheit weichen.

Aber er ist nicht klüger geworden. Er hat im jetzigen Prozeß nicht nur den Eröffnungsbeschluß gegen die Angeklagten verschärft: Dort, wo die Staatsanwaltschaft lediglich den Vorwurf der Tötung durch Unterlassen erhob, sah Bräutigum Tötung durch aktives Tun. Er hat darüber hinaus in der Öffentlichkeit, in einem Vortrag und einem Aufsatz, seine klare Sicht der Dinge dargelegt: „Die Staats- und Parteiführung bestimmte, welche Maßnahmen zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen einzuleiten waren.“ Und: „Zur Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit war zwar die Rechtspflege berufen, doch war in letzter Instanz das SED-Politbüro Herr des Strafverfahrens.“ Den Angeklagten blieb nichts anderes übrig, als sich schon im Vorfeld durch ihren Richter für schuldig befunden zu sehen.

Bei aller Kritik an Bräutigam – die unverhohlene Offenheit, mit der der Richter seine tiefe Abneigung gegen die ehemaligen DDR-Größen äußert, hat gerade diesen Vorteil: seine Offenheit. Dagegen kann man sich wehren, dagegen kann die Verteidigung mit einem Ablehnungsantrag reagieren und Bräutigam als Richter ablösen. Und Bräutigam selbst? Er wird vielleicht, gekränkt und uneinsichtig, wie in dem bereits zitierten Aufsatz noch einmal feststellen: „Wer die Prozesse im Kriminalgericht Moabit verfolgt, kennt die Schwierigkeiten, die trotz bester Vorsätze der Justizorgane die Suche nach der Wahrheit blockieren.“ Julia Albrecht