Vier Küsse für ein Halleluja Von Ute Scheub

Rocksongs sind die Gebetsbücher der Moderne. Der angebetete Gott, dem alle Süße der Musik gewidmet ist, trägt inzwischen nur einen anderen Namen: Love, love, LLLooove heißt die Dreifaltigkeit. Kaum ein Lied, ohne daß es herzt und schmerzt, I love you baby, ohne daß es aus allen Noten trieft und schnieft, I can't live without you, ohne daß sich ein Bächlein der Rührung unter der Stereoanlage bildet, I need you so.

Die Heiligen, die die Liebesbotschaft überbringen, haben ebenfalls nur wenig neue Maskerade auflegen müssen, um der Fangemeinde von heute zu gefallen. Da stehen sie nun auf der Bühne, sternengleich, erleuchtet, im Lichterkranz. Und ihre Jünger & Jüngerinnen salben ihre Füße, lechzen nach ihren Worten und Küssen, sie wiegen sich hingegossen in ihrem Rhythmus und stammeln ihre Hymnen an den Gott der Liebe.

Die Kirchen bleiben leer, weil die Konzertsäle voll sind. Der Pfarrer sorgt sich, der Bischof eifert, der Papst wütet gegen die Dekadenz der Jugend. Alles ist Sex, alles ist verderbt, klagt die Vatikanbeauftragte Mary-Ann Glendon.

Aber war es je anders? Wir horchen hinein in die erhabensten Werke der geistlichen Musik: Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium, geschrieben 1734: „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehen. Deine Wangen müssen heut' viel schöner prangen, deinen Bräutigam sehnlich zu lieben ...“ Schamrot prangen hier bald unsere Wangen. So, so, Herr Bach. Kommt da jemand mitten im Advent?

Versenken wir uns lieber in frühere, in züchtigere Zeiten. Da ist die der Jungfrau Maria gewidmete, um 1560 entstandene Motette „Alma redemptoris mater“ von Orlando di Lasso. „Erhabene Mutter des Erlösers, du allzeit offene Pforte des Himmels ...“ Ei, ei, Lasso, du Sexist! Welch ein Glück für dich, daß kaum jemand den lateinischen Text deines Kirchenpornos versteht!

Wenden wir uns also von den Machos ab und den Frauen zu, am allerbesten den Nonnen. Zum Beispiel Mechthild von Magdeburg, der 1210 geborenen hochverehrten Visionärin, die ihre mystische Hochzeit mit Jesus beschrieb: „Du bist meiner Sehnsucht Liebesfühlen, du bist meiner Brust ein süßes Kühlen, du bist ein inniger Kuß meines Mundes, du bist eine selige Freunde meines Fundes, ich bin in dir, du bist in mir, wir können einander nicht näher sein ...“

Oh, oh, Mechthild! Diese weise Begine wußte schon im Mittelalter: Religion ist Sex. Wie unglaublich dumm ist doch die Kirche, daß sie diese Botschaft jahrhundertelang schamhaft verschwieg. Rock ist auch Sex, Rock ist auch Religion. Man stelle sich vor, die Kirche hätte Madonna rechtzeitig unter Vertrag genommen, und sie sänge, auf dem Altar tanzend, einfach nur ein paar dieser uralten Kirchenlieder:

„Geuß sehr tief in mein Herz hinein, du heller Jaspis und Rubin, die Flamme deiner Liebe. Und erfreu mich, daß ich doch bleib' an deinem auserwählten Leib eine lebendige Rippe. Nach dir ist mir, gratiosa coeliosa, krank und glümmet mein Herz, durch Liebe verwundet. Zwingt die Saiten in die Cythara und laßt die süße Musica ganz freudenreich erschallen: daß ich möge mit Jesulein, dem wunderschönen Bräutigam mein, in steter Liebe wallen.“