Die Leere nach dem großen Auskotzen

Auf dem SPD-Parteitag muß Scharping auch inhaltlich Akzente setzen. Ob ihm das gelingt, ist fraglich. Konsequenzen aus dem Führungsdesaster sind bisher nur ein Versprechen  ■ Von Karin Nink und Hans Monath

Mannheim (taz) – Dienstag nacht. Die Delegierten auf dem SPD-Parteitag haben mehr als sieben Stunden Debatte hinter sich. Eigentlich wollen sie jetzt Feierabend machen. Aber es muß noch über die vom Vorstand vorgeschlagene Satzungsänderung entschieden werden, wonach auf Dauer ein fünfter Stellvertreter-Posten etabliert werden soll.

Zoff ist zu erwarten, denn viele von der Basis wollen gegen die Änderung stimmen, um die ungeliebte Heidi Wieczorek-Zeul geschickt abzuservieren. Befürworter der Ausweitung befürchten, daß auch der Ostdeutsche Wolfgang Thierse geopfert werden könnte. Weder die Frauen noch die Ostdeutschen will der Parteivorstand vor den Kopf stoßen.

Aber die Reaktionen im Saal lassen spüren, daß die meisten Delegierten eine aufgeblähte Führung entschieden ablehnen. So können sie „denen da oben“, die ihnen das Leben so schwer gemacht haben, zeigen, wo es langgeht. Erst die brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt reißt das Ruder herum: „Mit der Frage vier oder fünf eröffnet ihr einen Nebenkriegsschauplatz“, schreit sie der Basis warnend entgegen. „Springt über euren Schatten und erspart uns eine neue Diskussion, sonst geht das Ganze in die Hose.“ Der Appell kommt an. Unerwartet gehen genügend Hände hoch: Es bleibt bei fünf Stellvertretern.

Sieben Stunden Aussprache hat die Parteispitze zu diesem Zeitpunkt über sich ergehen lassen müssen. 60 Rednerinnen und Redner haben den Vorstandsmitgliedern die Leviten gelesen und ihrer Enttäuschung in einer Weise Luft gemacht, die viele als ein befreiendes „Auskotzen“ empfinden.

Auch der gewöhnlich so kontrollierte Scharping gesteht am Abend, daß vieles in der Partei ihm über Gebühr auf den Magen schlägt: „Ich finde es zum Kotzen, wenn ich über Journalisten erfahre, was andere von mir denken. Erzählt es mir doch direkt.“ Es sei ein „übles Spiel“, wenn die Kritiker nur mangels Alternative den Stimmzettel für ihn heben, zu Hause aber die alten Vorwürfe wiederholen würden. „Da hat er wieder Mist gebaut, da hat er sich falsch beraten lassen“, äfft Scharping seine Gegner nach und kontert sichtlich geladen: „Es ist nicht meine Schuld, wenn es nicht zu einer personalpolitischen Alternative kommt.“ Ein emotionaler Scharping, der seine Gefühle nicht hinter einer Fassade von Unnahbarkeit versteckt, gewinnt Sympathie bei den Genossinnen und Genossen. Ganz anders als Schröder, der nicht daran denkt, sich in die Parteidisziplin einbinden zu lassen.

In den Sachfragen hat Scharping den Delegierten bis Mittwoch nachmittag bei strittigen Themen noch keine eigene Akzentsetzung zur Entscheidung vorgelegt. Doch nur in der Zuspitzung läßt sich der ständig beschworene Führungsanspruch beweisen. Zu klären gäbe es viel in Mannheim. Einen jungen Delegierten quält die Vermutung, die Partei werde sich in vielen Fragen „für ein radikales Sowohl-als- auch entscheiden“.

Wenig Profil gegen die Konkurrenz im Parteivorstand verspricht für Scharping die Auseinandersetzung um die Wirtschaftspolitik. Gegen den Antrag des Vorstands, der mehr Flexibilität der Arbeitszeit und längere Maschinenlaufzeiten ermöglichen soll, opponieren vor allem der linke „Frankfurter Kreis“ und die Juso-Spitze.

Und auch die Entscheidung über eine Beteiligung der Bundeswehr an der militärischen Sicherung eines Friedens in Bosnien kann heute noch zu einer Machtprobe zwischen Oskar Lafontaine und Scharping werden. Scharping hatte sich schon vor dem Parteitag und auch in Mannheim selbst öffentlich festgelegt, daß er eine Zustimmung zur Entsendung der Bundeswehr nicht am Einsatz von deutschen Tornados scheitern lassen will. Lafontaine lehnt den Tornado-Einsatz ab.

Unstrittig ist bei den Sozialdemokraten, daß die Europäische Union (EU) auch auf dem Feld der Sozial- und Beschäftigungspolitik Kompetenz erlangen muß. Für Dissens aber sorgen die nationalen Akzente und die Frage, ob es der SPD wirklich möglich ist, in politischen Kampagnen die Trennschärfe zwischen Kritik im einzelnen und der Ablehnung der EU herauszuarbeiten. Da droht Jo Leinen, ein SPD- Wahlkampf, der das Thema Währungsunion hochziehe, müsse auf ihn verzichten. Klaus Hänsch, Präsident des Europaparlaments, warnt vor einem neuen Nationalismus, den er offenbar nicht nur auf konservativer Seite sieht: Das Übel komme nämlich „vielfach verkleidet daher im Gewand der political correctness“. Aber wovor Hänsch ebenso wie Kerstin Griese, Juso-Kandidatin für die Vorstandswahl, warnen, genau das bekräftigt Gerhard Schröder, der auch in Mannheim die Währung in den Mittelpunkt rückt: „Ich halte dies für eine nationale Frage.“

Die Delegierten treibt am zweiten Tag vor allem die Frage um, ob der Parteitag die inhaltlichen Defizite überwinden und den leidigen Personalquerelen ein Ende setzen kann. Da ist auch Johannes Raus Ankündigung von Konsequenzen, „die ihr als Befreiung empfindet“, nicht mehr als ein Versprechen. „Meine große Angst“, so beschreibt die junge Bundestagsabgeordnete Ute Vogt die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten, „ist, daß auch dieses Mal die Appelle verhallen.“