Durch Zuschauen zum Täter geworden

Ab heute müssen sich sechs Mitglieder des früheren DDR-Politbüros wegen Totschlags an der deutsch-deutschen Grenze verantworten. Wenigstens der Rest der einstigen DDR-Spitze soll kollektiv hinter Gitter  ■ Aus Berlin Julia Albrecht

„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reisepässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden.“ Am 9. November 1989 verlas Günther Schabowski diesen Satz, Stunden später waren Mauer und Grenze zu Makulatur geworden. Diese rasante Auflösung des Staates, die Auflösung auch ihrer eigenen Funktionen, hatten die Oberen der DDR nicht gewollt. Schon wenige Tage später, am 16. November 1989, faßte der „Rat der Götter“, wie das Politbüro heimlich genannt wurde, seinen letzten Beschluß: die Abschaffung der deutsch-deutschen Grenze. Das war's.

Heute, fast auf den Tag genau sechs Jahre danach, beginnt vor dem Berliner Landgericht der Prozeß gegen Günter Schabowski, Egon Krenz, Günther Kleiber, Horst Dohlus, Kurt Hager und Erich Mückenberger. Der Generalstaatsanwalt will wenigstens den Rest der einstigen DDR-Spitze kollektiv hinter Gitter bringen. Wie zuvor die Mauerschützen und die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats (NVR) sollen die Mitglieder des Politbüros wegen der Toten an der Grenze zur Verantwortung gezogen werden.

Die Staatsanwaltschaft sieht in den Beschlüssen des Politbüros die mögliche Grundlage einer Verurteilung der ehemaligen Machthaber. Zwar beschäftigen sich die meisten dieser Beschlüsse mit banalem Kleinkram, wie etwa dem Mangel an Schnürsenkeln in Cottbus oder einer unansehnlichen Hausfassade an der Protokollstrecke. Brisant jedoch ist ein Beschluß des Politbüros vom 23. Januar 1973. Dort heißt es: Wegen der Aggressivität des „Imperialismus der BRD“ müsse „ein Kampfauftrag an die Grenztruppen und die Grenzbevölkerung“ ergehen, damit der „zuverlässige militärische Schutz der Staatsgrenze“ gesichert werde. Allerdings wirkten daran nur zwei der Angeklagten mit: Hager und Mückenberger.

Die anderen vier Angeklagten wurden erst Politbüromitglieder, als das Grenzregime schon voll gefestigt war. In ihre Zeit fällt kein einziger Beschluß, der die Verschärfung der Situation an Mauer und Stacheldraht bewirkte. Auch finden sich keine Hinweise darauf, daß sie die Aufrechterhaltung der tödlichen Lage an der Mauer aktiv befürwortet hätten. Eher im Gegenteil. In ihre Zeit fallen vereinzelte Schießverbote wegen auländischen Besuchs, schließlich auch der Abbau der Selbstschußanlagen und der Minen. Daraus konstruierte nun die Staatsanwaltschaft den Vorwurf der Tötung durch Unterlassen: Wer die Macht habe, den Abbau der Minen zu beschließen, der hätte auch den Schießbefehl aufheben können, so die Argumentation.

Nach dem Prozeß gegen Honecker, Albrecht, Keßler und Streletz als Vertreter des Nationalen Verteidigungsrats der DDR ist der Prozeß gegen die Politbüromitglieder der zweite und letzte große Prozeß der Bundesrepublik gegen die untergegangene DDR. Die Angeklagten sehen sich mit einer vor allem politisch motivierten Anklage konfrontiert. Sie haben einen ambitionierten Richter vor sich.

Hansgeorg Bräutigam ist jener Richter, der sich im Verfahren gegen Erich Honecker zu sehr engagiert hatte. Er mußte nach mehreren Tagen wegen Befangenheit weichen. Er hatte dem Nebenkläger vorzuschwindeln versucht, daß der von ihm weitergeleite Autogrammwunsch eines Schöffen an Honecker eine normale „Postsache“ sei.

Auch in dem jetzigen Verfahren hat Bräutigam seine weitreichenden Ambitionen bereits deutlich gemacht: Als er das Verfahren am 21. August 1995 zur Hauptverhandlung zuließ, hat er gleichzeitig die Anklageschrift verschärft. Während die Staatsanwaltschaft davon ausging, daß den vier jüngeren Politbüromitgliedern nur Tötung oder versuchte Tötung durch Unterlassen vorgeworfen werden könne, sieht Bräutigam die Beweislage viel optimistischer: „Die vorgelegten Beweismittel begründen die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung wegen aktiven Tuns. Alle Angeschuldigten sind verdächtigt, in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken aktiv am Ausbau und der Aufrechterhaltung der Grenzsperranlagen der DDR mitgewirkt und damit in den jeweils vorgeworfenen Einzelfällen den Tod der Flüchtlinge verursacht oder herbeizuführen versucht zu haben.“

Die Staatsanwaltschaft hingegen, die ihrerseits jahrelang an der 1.555 Seiten umfassenden Anklageschrift geschliffen und die nötigen Beweismittel herbeigeschafft hat und die rund 130 Beschlüsse, die das Politbüro seit seiner Gründung 1949 erlassen hat, auf ihre strafrechtliche Relevanz hin untersuchte, sieht die Schuld von Dohlus, Kleiber, Krenz und Schabowski allein darin, daß sie die Dinge geschehen ließen. Sie hätten, so die Staatsanwaltschaft, sagen müssen: Weg mit der Mauer. Daß sie das nicht gemacht haben, mache sie zu Unterlassungstätern.

Die Verteidiger von Schabowski hatten in einer Schutzschrift gegen die Anklage eingehend begründet, weshalb eine Bestrafung wegen Unterlassung nicht in Betracht kommt. Selbst wenn ein Politbüromitglieder für ein Schießverbot plädiert hätte, hätte dies sicherlich nicht die Schüsse an der Grenze zur Bundesrepublik verhindert. Vielmehr hätte Honecker den Betreffenden für verrückt erklärt, ihn vom politischen Geschehen ausgesperrt.

Bräutigam ist dieser Auffassung der Verteidigung gefolgt. Auch er hält eine Verurteilung wegen Unterlassung rechtlich nicht für möglich. Er schließt daraus jedoch nicht, daß den Männern mit den Mitteln des Strafrechts nicht beizukommen sei. Vielmehr meint er, für eine Verurteilung wegen aktiven Tuns genüge das „bloße Geschehenlassen und Zuschauen“. Täter könne auch der „ortsabwesende geistige Anführer“ sei. Gegen das Recht stellt Richter Bräutigam sein Gefühl: „Es würde der Stellung und dem eigenen Anspruch des Politbüros nicht gerecht, wollte man seinen Einfluß auf das Grenzregime in der Phase nach der Errichtung der Mauer als bloßes Geschehenlassen, bloßes Unterlassen würdigen.“

Auch dieser letzte große Prozeß könnte noch scheitern. Anfang nächsten Jahres wird das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde der bereits verurteilten Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats (Albrecht, Keßler, Streletz) entscheiden. Es besteht eine nicht geringe Möglichkeit, daß die Richter des zweiten Senats unter dem Vorsitz der Präsidentin Jutta Limbach die Nichtverfolgbarkeit der Taten an der deutsch-deutschen Grenze wegen Verstoßes gegen das verfassungsrechtlich festgeschriebene Rückwirkungsverbot befinden werden. Dann dürfte Richter Bräutigam auch seine letzte Möglichkeit vertan haben, wegen Verurteilung von hohen DDR-Funktionären in die Justizgeschichte einzugehen.