Valium oder Melissengeist

Autonomie ist Ziel jeder ehrlichen Heilkunst. Das Maschinenbild vom Leben ist so realitätsfremd wie Vertrauen in Wunderheiler. Ein Essay  ■ Von Ellis Huber

Die Deutschen lieben die Naturheilkunde und die alternative Medizin. Wo ein Problem ist, muß in der göttlichen Apotheke auch ein Kraut dagegen gewachsen sein. „Ich möchte keine Chemie, ich will nur natürlich behandelt werden“, eröffnet der Patient das Arztgespräch. Was ist dran an dieser „Alternativmedizin“?

Funktionelle Störungen, also individuell schlechtes Befinden, chronische Leiden mit ständiger Behinderung oder Altersgebrechen, die das Leben erschweren, bestimmen den Alltag der Arztpraxis. Den Arztbesuchern geht es schlecht, sie erwarten Hilfe bei einer heilkundigen Persönlichkeit. Was aber hilft, natürlich mehr als nur chemisch, des Doktors Rezepte oder der Heilpraktiker?

Autonomie, die selbständige und selbstbestimmte Bewältigung des Lebens, ist das Ziel jeder ehrlichen Heilkunst. Wie kann ein kranker Mensch möglichst schnell und möglichst dauerhaft sein Gebrechen überwinden? Heilt der Arzt, der Schamane oder der Handaufleger? In der Regel ist der Patient selbst sein bester Arzt. Therapeuten sind Helfer zur Gesundung. Ein guter Heiler fördert daher Selbstbestimmung, Selbständigkeit und Selbstvertrauen bei seinen Patienten. Ein guter Arzt macht sich selbst überflüssig. Das verlangt Souveränität.

Die Psychoneuroimmunologie, eine Wissenschaft, die Brücken zwischen den Gefühlen und Abwehrzellen schlägt, beweist heute, daß Gesundheit und Krankheit im kommunikativen Gewebe von Gen, Person und Umwelt entstehen. Die kaputte Bandscheibe signalisiert auch eine Fehlhaltung im Leben und informiert über die Aggressivität einer Erfolgskultur. Magenschmerzen können die Kombination von Einsamkeit und Bakterien sein.

Ärztliche Erkenntnis und medizinisches Wissen sind eben relativ. Die „Relativitätstheorie der Medizin“ zerstört allen Glauben an einfache Weltbilder. Heilkunst als Dogma ist ritualisierte Volksverdummung – sonst nichts. Das Maschinenbild vom Leben ist ebenso realitätsfremd wie der Glaube an Bachblüten und das Vertrauen in Wunderheiler. Wer aus Krankheit Unterwürfigkeit oder Heilsgemeinschaften produziert, dient seinen eigenen Interessen und nicht dem, der Hilfe sucht. Wohlbefinden erscheint dann wie ein kurzzeitiger Pyrrhussieg über das individuelle Elend. Auf Dauer macht Heilsucht krank und Abhängigkeit unglücklich. Aber einfache Weltbilder sind immer verführerisch, in Deutschland ganz besonders.

Die deutsche Seele glaubt gerne, sie unterwirft sich schnell und schluckt breitwillig, was weiße Männer anbieten. Johanniskraut ist so beliebt wie Valium oder computertomographische Bilder. Die hohen Priester der Naturheilkunde sind aber ebenso gefährlich wie die seelenlosen Körperingenieure. Der Psychoguru unterscheidet sich nicht vom überheblichen Herzverpflanzer oder vom selbstgerechten Homöopathen. Die Selbstbestätigung und, allzuoft, der materielle Profit der Therapeuten überlagert seine Humanität und Nächstenliebe. Glaube und Sehnsucht von bedrängten Menschen in ihrer körperlichen, seelischen oder sozialen Not werden schamlos oder – milder gesehen – gedankenlos ausgebeutet.

Gesundheit und Krankheit entwickeln sich im Beziehungsgefüge von Mensch zu Mensch und im Wechselverhältnis zu Natur und Gesellschaft. Aus der Beziehung zwischen Helfer und Hilfsbedürftigen erwächst Heilsames nur dann, wenn der Heiler bescheiden bleibt und die Relativität seiner Kunst respektiert. Krebspatienten können für sich selbst Wunder bewirken. Wundermittel und Wunderheiler aber gibt es nicht. Wer solches anbietet oder von sich behauptet, ist ein Scharlatan.

Moderne naturwissenschaftliche Erkenntnis zeigt komplexe Realitäten auf. Romantisch liebt die deutsche Seele das Heil aus der Natur. Die Dogmen der Heilkunst sind Ausdruck einer vergangenen Zeit. Andere schwören auf die therapeutische Wirkung des Herzkatheters. Mann sieht Befunde und verdrängt das Befinden. Frau schluckt Kräuter und vergißt die eigene Stärke. Wo Beziehungen Gesundheit schaffen könnten, lebt kontaktreiche Beziehungslosigkeit. Das soziale Bindegewebe bricht.

Naturheilkunde und „alternative Medizin“ sind längst zum lukrativen Geschäft geworden. Man vermarktet Johanniskraut wie Computertomographen, Indianerrituale wie Gelenkoperationen. Der Wirtschaftssektor der Gesundheitsdienste verkauft alles, was scheinbar hilft. Der Gesundheitsmarkt wurde zum lukrativen Monopoly-Spiel: Valium oder Klosterfrau Melissengeist fürs Volk. Der abhängige Konsument ist dabei der lukrativste Patient, und der Untertan nützt der kapitalistischen Medizin ebenso wie der gefühligen „Alternativmedizin“.

Heilkunst zwischen Menschen ist aber ein emanzipatorischer Prozeß. Gesunde Beziehungen sind wichtiger als Valium und Johanniskraut. Sogenannter Schulmedizin und aller „Alternativmedizin“ ist eines gemeinsam: Sie können in die Abhängigkeit führen und den Therapeuten unverdient erhöhen oder materiell belohnen. Nicht die Methode der Heilkunst, ihr Ziel ist das Problem. Führt diese Medizin den Menschen zur Selbstbestimmung oder zur Fremdbestimmung? Das muß bei der Naturheilkunde und allen Alternativen ebenso kritisch hinterfragt werden wie bei der Schulmedizin. Bei guten Ärtzen profitiert immer der Patient am meisten.

Der Autor ist seit 1987 Präsident der Berliner Ärztekammer. Er gehört zur linksalternativen „Fraktion Gesundheit“.