Zufällig erschossen

■ Moskaus Journalisten haben Angst vor dem Militär, nachdem ihre Kollegin Natalja Aljakina-Mrozek mit zwei Schüssen "aus Versehen" getötet wurde

Vor vier Wochen fand am Stadtrand der südrussischen Stadt Budjonnowsk eine merkwürdige Demonstration statt. Ein junger Wehrpflichtiger der Truppen des Innenministeriums hatte den Auftrag, beim Klettern in eine Panzerluke so auf den schräg darunter montierten Auslösehahn eines Maschinengewehrs zu treten, daß sich genau zwei Schüsse aus dem Gewehr lösten. Zwei einzelne Schüsse, aus einem Schnellfeuergewehr, durch einmal Abrutschen? Dem Rekruten gelang das nicht, erst ein Spezialist der Sondertruppe, der dann zum Schießplatz gerufen wurde, vollbrachte mit geschickten Bewegungen tatsächlich das Kunststück.

Sinn der Vorführung: Die Armee wollte einer Untersuchungskommission der Moskauer Militärstaatsanwaltschaft bei einem Ortstermin plausibel machen, daß es möglich ist, auf die beschriebene Weise jemanden zu erschießen, „zufällig“. Die Zufallshypothese ist immer noch die offizielle Version in einem Todesfall, der bei deutschen und russischen Journalisten in Moskau Empörung auslöste. Der junge Rekrut soll der Todesschütze sein, angeklagt des „fahrlässigen Umgangs mit der Waffe“.

Gisbert Mrozek, einer der Zuschauer der makabren Vorführung, war dreieinhalb Monate zuvor schon einmal in der südrussischen Steppe. Am 17. Juni dieses Jahres stand der Moskau-Korrespondent von Focus und der Rundfunkagentur RUFA blutüberströmt auf der Landstraße nach Budjonnowsk. Er selbst war unverletzt, aber seine Frau, die vierzigjährige Journalistin Natalia Aljakina, war kurz vorher erschossen worden, an einem russischen Straßenposten, hinterrücks mit genau zwei Schüssen durch die Heckscheibe des Taxis, das die beiden zwecks Berichterstattung zu dem Krankenhaus bringen sollte, in dem tschetschenische Freischärler Hunderte von Geiseln genommen hatten. Das Personal des von anderen Autofahrern alarmierten Erste-Hilfe-Wagens hatte die Tote mitgenommen, ihren Mann aber mit der Begründung zurückgewiesen, für den Transport von Verwandten sei man nicht zuständig.

Die Untersuchung, zu der die Inszenierung auf dem Schießplatz zählt, findet ohnehin nur deshalb statt, weil deutsche und russische Kollegen der Journalistin den Fall an die Öffentlichkeit brachten und zahlreiche Medienvertreter und Organisationen im Vorfeld von Helmut Kohls Moskau-Besuch im September Druck auf den Bundeskanzler ausübten, Natalja Aljakinas Tod dort zur Sprache zu bringen. „Ohne das“, sagt Gisbert Mrozek, „wären die Ermittlungen im Sande verlaufen.“

Zweieinhalb Monate lang, berichtet Mrozek, sei überhaupt nichts passiert, „außer daß Beweisgegenstände – die durchschossene Heckscheibe des Taxis und die Tatwaffe – verschwanden.“ Für Mrozek selbst hat sich durch den Ortstermin der Verdacht eher noch bestätigt: „Das war kein Zufall.“ Mrozek hat mit Waffenexperten gesprochen. Innerhalb des Militärs, sagt er, sei ohnehin die Meinung verbreitet, der Todesschuß könne nicht aus einem beiläufigen Tritt auf eine Waffe während des Einsteigens gefolgt sein.

„Wenn die Ermittlungen dazu führen, die makabre Version zu bestätigen, dann heißt das grünes Licht für alle im Militär, die mal auf Journalisten schießen wollen.“ Eine „endlose Kette“ solcher Vorfälle kennt Mrozek, die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ zählte vier getöteten Journalisten in Rußland allein im ersten Halbjahr dieses Jahres.

Zwar hat der Ehemann der Getöteten mittlerweile den Eindruck, daß die Militärstaatsanwaltschaft die Ermittlungen jetzt kooperativ führt, doch gerade weil die Behörde traditionell eng mit dem Militär verknüpft ist, befürchtet er, „daß die Verantwortlichen ungeschoren davonkommen“ – wie schon in vielen anderen Fällen.

In zahlreichen Aktivitäten hat Mrozek zusammen mit Kollegen nach dem Tod seiner Frau versucht, die Arbeit und die Sicherheit unabhängiger Berichterstatter, wie zum Beispiel im Tschetschenienkrieg, zu verbessern. Ein Bürgertribunal, das Öffentlichkeit für solche Fälle schaffen soll, scheint wegen der Vorbehalte vieler russischer Journalisten gegen eine solche Veranstaltung nicht so recht in Gang zu kommen. „Das ginge direkt gegen den Kern der Macht in Rußland“, erklärt Mrozek, „den so mutig direkt anzugreifen, davor schrecken viele zurück.“

Ein anderes Vorhaben dagegen wird nun konkret: Eine Stiftung, die den Namen der getöteten Natalja Aljakina-Mrozek tragen soll, wird in der kommenden Woche angeschoben. Zahlreiche Prominente aus Deutschland und Rußland hat Mrozek für die Idee gewonnen. Engagierte Journalist sollen das Projekt durch Fortbildungen, ideelle und finanzielle Unterstützungen (wie zum Beispiel einen Preis) fördern.

Nicht nur deutsche Medienmacher (unter anderem Focus-Chef Helmut Markwort) sind dabei, sondern auch wichtige Vertreter aus russischen Zeitungshäusern und Fernsehanstalten. „Ihnen geht es da schließlich um die eigene Zukunft“, sagt Mrozek. Über den Fall Aljakina und die Ermittlungen der Behörden haben die russischen Kollegen intensiv berichtet. Durch zahlreiche Fernseh- und Zeitschriftenberichte wurden die Gefährdungen der Berichterstatter öffentlich.

Doch eine Szene, ausgerechnet bei dem Ortstermin in Budjonnowsk macht deutlich, daß der Schutz freier Berichterstattung in Rußland auch weiterhin nicht überall selbstverständlich ist: Mrozek berichtet, wie ein Kollege dort erfuhr, daß die Truppe nun wieder nach Tschetschenien verlegt werde. Dann sehe man sich ja in Grosny wieder, schlug der Journalist dem Soldaten vor. „Ja, doch nur, wenn du auf unserer Seite stehst“, war die Antwort, „aber wenn ich dich da drüben sehe, schieße ich nicht daneben.“ Barbara Kerneck/Lutz Meier