■ Rußland: Ist der Zar krank, ist seine Herrschaft marode
: Gott hat keinen Herzfehler

Amtierende Staatsoberhäupter sollten gesund scheinen. Der marode Herrscher gilt in der Öffentlichkeit als Indiz für eine marode Herrschaft. Daher werden in Diktaturen die Krankheiten von Herrschenden vor der Öffentlichkeit so weit wie möglich verborgen gehalten. Scheint das Staatsoberhaupt gesund zu sein, kann das dann entweder daran liegen, daß es gesund ist, oder daß es seinen Helfern gelingt, den Anschein von Wohlergehen öffentlich zu sichern. Ein sichtbar krankes Staatsoberhaupt kann daher Indiz für die Gesundheit der Öffentlichkeit sein.

Autoritäre Regime stehen hier vor einem Dilemma: In Zeiten der Allgegenwart und des unkontrollierbaren Vagabundierens von Nachrichtenbildern ist die Kontrolle der öffentlichen Darstellung öffentlicher Personen schwieriger geworden. Ihre Krankheit hat Nachrichtenwert und beschädigt das Ansehen des regierten Reiches.

Wo die Staatsoberhäupter schwach und Regierungsparteien stark sind, wird das kranke Oberhaupt frühzeitig ausgetauscht. Das Krankheitsbild könnte vom Publikum auf die dominierende Partei übertragen werden. Wo die Macht formell beim Staatsoberhaupt konzentriert ist, ohne daß sich formelle oder informelle Absetzungsmechanismen durchsetzen, stellt sich das Problem des Alterns und der wachsenden Hinfälligkeit in besonderer Weise. Chruschtschow und Gorbatschow wirken in der Erinnerung noch heute ziemlich vital, weil sie gestürzt wurden. Die zerfallenden Parteiführer Breschnew und Tschernenko wurden zum Symbol einer zerfallenden politischen Ordnung.

Jelzins Charisma ist durch seine Krankheiten längst beschädigt worden. Er und seine vertrauten Berater können die Macht noch festhalten, aber nicht mehr souverän einsetzen. Das zeigte sich an der Invasion in Tschetschenien ebenso wie an der schlingernden Außenpolitik. Aber auch wenn Jelzin ungeliebt ist und als unfähig gilt, eine Alternative zu ihm ist noch nicht aufgetaucht. Noch gilt er als Garant eines Gleichgewichts, dessen Verschwinden sehr viele fürchten. Es kann ja noch schlimmer kommen.

Der gute Zar, der sonst mit Krone, Zepter und Weltapfel auf seinem Thron sitzt und regiert, ist hinfällig; wer soll nach ihm sein Reich zusammenhalten? In diesem monarchischen Bild steckt ein religiöses – das des alles wissenden und alles steuernden Gottes. Die Vorstellung aber, Gott hätte eine Herzkrankheit, ist ebenso skandalös und blasphemisch wie die, daß er einen Rausch auszukurieren hätte.

Also gute Besserung! Erhard Stölting

Professor für allgemeine Soziologie an der Universität Potsdam