Freier Fall in die Große Koalition

■ Bonner SPD übernimmt Mitverantwortung für Berliner Wahl-Desaster. Scharping aber fühlt sich „relativ frei“

Bonn (taz) – Die Bonner SPD-Führung zeigt sich nach dem Wahldesaster von Berlin einsichtig. Das mit 23,6 Prozent schlechteste Nachkriegsergebnis der SPD in Berlin sei eine „schwere Niederlage“ und ein „bundesweites Warnsignal“, zu dem die Auseinandersetzungen in der Partei maßgeblich beigetragen hätten, erklärte SPD-Chef Rudolf Scharping gestern in Bonn. Das „von einigen vom Zaun gebrochene Sommertheater“ sei mitschuldig an den Stimmenverlusten. „Diesen Teil der Verantwortung müssen wir uneingeschränkt übernehmen.“ Persönlich fühle er sich aber „relativ freier“ von Verantwortung. Scharping muß sich heute bei der Wahl zum Fraktionsvorsitz dem Votum der SPD-Abgeordneten stellen.

Die Berliner SPD-Spitzenkandidatin Ingrid Stahmer sprach hingegen von inhaltlichen, organisatorischen und strukturellen Defiziten, die es zu überwinden gelte. Der SPD fehle „die große Idee, die uns zusammen- und vorwärts führt“, sagte Stahmer. Schließlich müsse die SPD ihre „Einbindung in die gesellschaftlichen Gruppen prüfen“. Die traditionelle Unterstützung durch die Gewerkschaften habe sich in Berlin als wirkungslos erwiesen.

Die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis machte für das Debakel neben internen Streitereien die besondere Lage Berlins verantwortlich: „Diejenigen, die befürchten, daß die Stadt in Beton untergehen könnte, und die, die um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten, haben PDS und Grüne gewählt. Die SPD hat ihnen anscheinend keine adäquaten Antworten vermittelt.“

In der Bundes-SPD mehrten sich gestern die Stimmen gegen eine bruchlose Fortsetzung der Großen Koalition in Berlin. SPD-Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering meinte, eine Neuauflage der Koalition mit der CDU stehe noch lange nicht fest. Stahmer selbst wollte sich nicht festlegen und verwies auf den Landesparteitag am 7. November.

Bündnis 90/Die Grünen warnten die SPD davor, die Politik der Großen Koalitionen zu einem Modell für ganz Deutschland zu machen. Es sei in Berlin deutlich geworden, daß die SPD „nirgends so abschmiert“ wie in einer Großen Koalition, sagte Vorstandssprecherin Krista Sager. Die Sozialdemokraten forderte sie auf, sich vor den Landtagswahlen im kommenden Jahr eindeutig auf ein Reformbündnis mit den Grünen festzulegen. Die PDS rief SPD und Grüne gestern zur Bildung einer von ihr tolerierten Minderheitsregierung in Berlin auf. Der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl forderte, seine Partei müsse sich angesichts des Wahlerfolgs der PDS offensiv mit ihr auseinandersetzen. „Wir müssen vor Ort kämpfen“, so Kohl.

Der bündnisgrüne Vorstandssprecher Jürgen Trittin erklärte, die Grünen stünden angesichts des „freien Falls der SPD“ vor einem strategischen Problem. „Bundespolitisch stehen wir vor der Situation, daß wir unentwegt gewinnen, gleichzeitig aber einer Machtveränderung nicht näherrücken, weil wir die Verluste des möglichen Partners nicht ausgleichen können.“

Günter Rexrodt zog gestern die Konsequenzen aus der „bitteren Niederlage“ der FDP, die mit 2,5 Prozent aus dem Abgeordnetenhaus ausschied, und kündigte seinen baldigen Rücktritt vom Amt des Landesvorsitzenden an. Bundeswirtschaftsminister wolle er aber bleiben, sagte Rexrodt gestern in Bonn. Hans Monath

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