Charakterprobleme

Garri Kasparow verteidigt seinen WM-Titel und erklärt, wer in der Schachwelt das Sagen hat  ■ Aus New York Stefan Löffler

Mit dem Blick fest auf der Tischplatte hörten sich Garri Kasparows erste Sätze nach seiner fünften Titelverteidigung wie auswendig gelernt an. „Ich bin sehr glücklich. Es war ein sehr schwieriges Match für mich.“ Und daß es ihm schwer fiel, sich bei drei Punkten Vorsprung noch einmal für diese 17. Partie zu motivieren. Vor Beginn jeder Runde hatte er zunächst alle seine Figuren berührt und sie genauso hingestellt, wie er sie haben wollte. Nur am Montag nicht. Prompt begann er schlecht, nach 32 Zügen patzte er sogar. „Dieser Fehler wäre mir in einer Schnellpartie nicht passiert“, erklärte der alte, neue PCA-Schachweltmeister.

Nur fünf Züge später ließ sein Herausforderer Viswanathan Anand seine beste Gewinnchance aus. Nach 62 Zügen versuchte der Inder dann noch eine plumpe Falle und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Kasparow zu ihm aufschaute. Einen Zugwechsel später war das 10:7 perfekt. Damit hatte Kasparow seinen Titel verteidigt. Dennoch ist das auf 20 Partien angesetzte Match im World Trade Center noch nicht beendet, denn bei einem 10:10 würde die Siegprämie von 1,5 Millionen Dollar geteilt. Um zwei Drittel der Summe einstreichen zu können, braucht Kasparow also noch ein Remis.

„In der ersten Woche habe ich mich unwohl gefühlt. Die Niederlage in der neunten Partie war nicht mein schlimmster Tag“, rekapitulierte der 32jährige Champion. In den nächsten fünf Partien habe Anand das Match verloren. „Kasparows Erfahrung hat eine sehr große Rolle gespielt, vor allem seine Erfahrung, unter großem Druck zu spielen“, meint Artur Jussupow, einer von vier Sekundanten Anands. Kasparow sei während der ersten beiden Wochen keineswegs außer Form gewesen, wie manche Kommentatoren zu wissen glaubten. Der Titelverteidiger selbst erklärte Anands Zusammenbruch mit einem Übermaß an Vorbereitung. „Ein bißchen hat er recht“, erwidert Jussupow. „Anand hätte mehr improvisieren sollen. Aber das gilt auch für Kasparow selbst.“

Anands Talent und Spielverständnis seien weltmeisterlich, findet der New Yorker Großmeister Lev Alburt. „Aber er hat keinen weltmeisterlichen Charakter.“ Deshalb glaubt Alburt nicht, daß Anand je einen Kämpfer vom Schlage Kasparows oder Karpows besiegen könne. Enttäuscht sind die Experten aber auch über den Inhalt der Partien. „Ich habe schon interessantere Zweikämpfe erlebt“, sagt der ukrainische Großmeister Alexander Tschernin, einige seiner Kollegen äußern sich weniger zimperlich. Nur Kasparow will von derlei Defätismus nichts hören. Das Match sei härter gewesen, als man von außen bemerken konnte. Seit acht Jahren habe ihn keiner so gefordert wie Anand. Selbst 1990 sei er überzeugt gewesen, daß er seinen Erzrivalen Karpow schlagen werde, und das sei er vor dem New Yorker Duell nicht gewesen.

In einem Jahr plant Kasparow eine „Wiedervereinigungsweltmeisterschaft“ gegen den Champion des Weltverbandes FIDE, Anatoli Karpow oder Gata Kamski. Kasparow will als Titelverteidiger in das Match gehen, als unbesiegter Weltmeister verkörpere er die Tradition, argumentiert der PCA-Champion. Ein Unentschieden soll ihm genügen. Doch der Russe Karpow und der Greencard- Amerikaner Kamski wollen die Regeln so nicht unterschreiben. Statt klein beizugeben, beschuldigen sie Kasparow, bei potentiellen Sponsoren in Rußland gegen ihren Zweikampf intrigiert zu haben. Nun droht der ihnen: „Sie müssen begreifen, wer in der Schachwelt das Sagen hat.“