Die Odyssee der Archive

Die Archive der jüdischen Gemeinde Thessaloniki haben eine wahre Odyssee hinter sich. Der „Einsatzstab Rosenberg“, der auf den Spuren der Wehrmacht in ganz Europa die jüdischen Kulturzentren plünderte, unterhielt seit Mai 1941 eine Arbeitsgruppe Thessaloniki. Ihr Leiter, Leutnant Ritter von Ingram, ließ von der „Geheimen Feldpolizei“ systematisch alle Literatur- und Kulturschätze aus Archiven, Synagogen, privaten und öffentlichen Bibliotheken zusammenrauben.

Ein Großteil der Beute wurde nach Frankfurt am Main geschickt, wo die Nazis eine Bibliothek für die Erforschung des Judentums als Zentrum eines „wissenschaftlichen Antisemitismus“ planten. Nach den ersten Bombenangriffen der Alliierten wurde das Raubgut ausgelagert und fiel 1945 in russische Hände. So kam es, daß die noch verhandenen Bestände aus Thessaloniki sich heute in Moskau befinden.

Die Archive sollten natürlich dorthin zurückkehren, wo sie hingehören. Doch in Moskau will man auf die Sekundärbeute nur gegen DM verzichten. Dieses Lösegeld müßte das vereinigte Deutschland aufbringen. So sehen es jedenfalls die Leitung des Goethe-Instituts und die Lehrer an der deutschen Schule in Thessaloniki, die in diesem Sinne auch an das Auswärtige Amt in Bonn geschrieben haben.

Aus Bonner Sicht ist das Thema allerdings mit der Frage der Kriegsreparationen verknüpft, die derzeit die griechische Öffentlichkeit weit mehr beschäftigt als die deutsche. Gegenüber den Entschädigungsansprüchen, die Tausende griechischer Bürger vor griechischen Zivilgerichten einzuklagen versuchen, spielt der Nachfolgestaat des dritten Deutschen Reiches den toten Käfer. Ohne öffentlichen Druck dürfte sich die Bonner Regierung in Sachen des Jüdischen Archivs nicht regen.

Das Jüdische Museum, das in Thessaloniki entsteht, kann allerdings fürs erste auf ein Angebot der Universität Tel Aviv zurückgreifen. Diese hat schon vor Jahren eine Mikrofilm-Kopie der Moskauer Bestände erstanden. NK