Wie im Fußballstadion

Munteres Publikum bei Garri Kasparows Siegeszug im Finale der Schach-Weltmeisterschaft  ■ Aus New York Stefan Löffler

Garri Kasparow sitzt auf der Vorderkante seines Stuhles, die Ellenbogen fest hinter das Brett gestützt, und unter dem Tisch trommeln die Füße. Beide Spieler haben nur noch fünf bis sechs Minuten Bedenkzeit, als Anand den Bauern vor seinen König zieht. „Yeah, das wollen wir noch mal in Zeitlupe sehen“, ruft Großmeister Daniel King den Zuschauern zu. Die Menge ist in Stimmung, doch ihr Klatschen und Johlen kommt auch hinter den Glasscheiben an. Kasparow gestikuliert heftig zur Schiedsrichterin, dann spielt er seinen Läufer. Als die Zeitkontrolle einige Züge später geschafft ist, gibt Anand auf. „Es war, als ob wir mitten in einem Fußballstadion spielten“, schimpft Kasparow hinterher. „Anand hat völlig recht. Aber wir mußten da beide durch.“

Schob Anand seine Niederlage in dieser 14. Partie um die PCA- Schachweltmeisterschaft tatsächlich auf den Lärm? Schiedsrichterin Carol Jarecki war dabei, als die Spieler kurz über das Geschehen sprachen. „Anand sagte nur, es sei eher wie bei einem Amateurturnier als bei einer Weltmeisterschaft. Es war Kasparow, der das Ganze aufbrachte.“ Dabei hatte Anand allen Grund, seine Enttäuschung herauszuschreien. Mit einer ungewöhnlichen Eröffnung, der unter Meistern als anrüchig geltenden „Skandinavischen Verteidigung“, traf er den Titelverteidiger unvorbereitet, lehnte mit den schwarzen Steinen völlig zu Recht ein Remisgebot ab und hatte auch mehr Bedenkzeit über, als die Zeitnotphase anbrach. Für seinen letzten Zug vor der Kontrolle hatte Anand immer noch komfortable zweieinhalb Minuten, als er mit zitternder Hand hastig zog. Hätte er den Turm ein Feld früher abgesetzt, wäre noch ein Remis drin gewesen. So dagegen war seine Stellung aufgabereif.

Vier der letzten fünf Partien gingen an Kasparow. „Der Titelkampf ist entschieden“, sagte der 32jährige Russe am Dienstag abend, und kaum jemand bezweifelt beim Stand von 8,5 : 5,5 für Kasparow ernsthaft, daß er die zur Titelverteidigung fehlenden 1,5 Punkte bald in der Tasche hat. Dabei hatte Anand das Match so vielversprechend begonnen. Zwei Wochen lang geriet der Tamile aus Madras kein einziges Mal in Verlustgefahr, dann schlug er in der neunten Partie zu und ging als erster in Führung.

„Ich habe das Gefühl, daß Anand die Vorbereitung übertrieben hat“, versuchte Kasparow eine Erklärung für den Einbruch seines Gegners. „Seine Trainer haben sein Operationsfeld eingeschränkt. Sie haben sein Spiel gegen mich ausgerichtet, ohne Anands eigene Stärken auszuschöpfen.“ Darum habe er sich nicht umstellen können, als Kasparow aus der erwarteten Rolle fiel. Anand fehle es wahrscheinlich auch an Zähigkeit. Dabei bestreitet Kasparow den Zweikampf selbst mit einem Minimum an Einsatz. In elf der vierzehn Partien bot er Remis, und die beiden Male, als Anand ablehnte, patzte der Inder. Einmal gewann Kasparow durch eine in allen Varianten geprüfte Heimanalyse. Nur zweimal überspielte er Anand am Brett, übersah aber in der einen Partie eine Verteidigungsidee, die ein Remis erzwang.

Erst in der zweiten Matchwoche begann Kasparow, sich „hundertprozentig auf Schach zu konzentrieren“, kurze Fernsehpausen in Sachen O. J. Simpson allerdings nicht mitgerechnet. „Er ist schuldig. Aber das ist meine persönliche Meinung.“ Den für ihn enttäuschenden Freispruch knapp zwei Stunden vor Beginn der Dienstagspartie für sein schwaches Eröffnungsspiel verantwortlich zu machen, verkniff sich Kasparow jedoch.