Sanssouci
: Vorschlag

■ Die "Reformbühne Heim & Welt" feiert sich im Schokoladen

Seit Anfang dieses Jahres treffen sich Berliner LiteratInnen aus Ost und West an jedem Sonntag abend im Schokoladen, um gemeinsam Gedichte und Geschichtchen vorzutragen. Angereichert wird das Programm durch Musik- und Gesangseinlagen, bei denen durchaus unbeabsichtigt mancher Ton nicht richtig getroffen wird. Gegründet wurde diese Reformbühne von Bov Bjerg und Hans Duschke, die zuvor mit anderen AutorInnen seit 1990 unter dem Namen Dr. Seltsams Frühschoppen im Café des ehemals besetzten Hauses Brunnenstraße Nr. 7 ein ähnliches Programm präsentiert haben. Beide schreiben Kolumnen für den Scheinschlag, die kostenlose Zeitung aus Mitte, und erarbeiten gerade ein neues Programm für das Kabarett Zwei Drittel. Man verstärkte sich schnell mit anderen SchriftstellerInnen, u.a. mit dem Routinier Michael Stein, der vorher mit Wiglaf Droste das Benno Ohnesorg Theater geleitet hat, und dem Liedermacher Manfred Maurenbrecher. Frischen Wind ins Haus brachten im Juli die beiden jungen Autoren Arne (einfach Arne), 27, und F. Hennig, 25, die jedem bekannt sind, der einmal das legendäre, nicht mehr existente Café Freudenhaus in der Lottumstraße am Fuße des Prenzlauer Bergs besucht hat.

Letzten Sonntag nun beendete Arne, ein gelernter Drucker, seine Trilogie der Biologie mit einem fünften Teil, der sich mit Genetik befaßt. Hans Duschke erklärte dem Publikum indessen, wie es Künstler kennenlernen könne. Diese Geschichten, wie auch Jürgen Wittes Auseinandersetzungen mit seiner Pubertät in der Bundesrepublik der 70er Jahre, erscheinen regelmäßig in der vom Mink-Verlag herausgegebenen Literaturzeitschrift Salbader, die 1989 im Umkreis der Leute von Dr. Seltsams Frühschoppen gegründet wurde und halbjährlich erscheint. Erwerben kann man sie im Abo oder gegen Spende in den sonst kostenlosen Vorstellungen der Reformbühne.

Da auch die talentiertesten NachwuchsautorInnen nicht jede Woche zur Hochform auflaufen können, wird häufig auf die Produkte von KollegInnen zurückgegriffen. Sarah Schmidt, die früher kurz den Frühschoppen gemanagt hat, las am Sonntag eine Ich-Erzählung aus der Frauenzeitschrift Cosmopolitan, in der eine Frau erst im reifen Alter ihren kleinen Busen akzeptieren lernt, so ergriffen vor, daß man meinte, sie hätte den Text selbst geschrieben. Ansonsten hat sie es als einzige Frau schwer, sich gegen den geballten Chauvinismus vor allem eines Michael Stein durchzusetzen, der in seinen Geschichten nicht einmal davor zurückschreckt, 16jährigen „Zeuginnen Jehovas“ nachzustellen.

Das Stammpublikum zeigt auch schon erste Verfallserscheinungen. Getreu dem Helge-Schneider-Effekt wird bei den lauesten Witzen gegrölt oder an Stellen, die gar nicht lustig gemeint sind, worauf die Autoren immer extra hinweisen. Davon abgesehen ist es aber das reinste Vergnügen und jedem zu empfehlen, schon heute die – allerdings kostenpflichtige (5 DM) – Sondervorstellung zu besuchen und allen Folgen der gemeinsam verfaßten Fortsetzungsgeschichte „Victor Orloff – Geheimauftrag Aids“ zu lauschen. Am Sonntag wird dann der neue Salbader vorgestellt. Ulf Heuner

Heute, 21 Uhr, Schokoladen, Ackerstraße 169, Mitte, außerdem jeden Sonntag, 20 Uhr, ebendort.