■ Ist die Welt grotesk oder absurd? Die meisten Menschen können nicht mehr tun, als auf ein Wunder zu warten
: Grandhotel Abgrund

Der Unterschied zwischen grotesken und absurden Theaterstücken ist der, daß erstere wesentliche Tendenzen der Wirklichkeit zuspitzen, also im Interesse der Wahrheit verzerren, während bei letzteren außer unwesentlichen, oberflächlichen Geistreicheleien nichts in der Realität gerecht wird. Beide literarischen Betrachtungsweisen werden von einer Idee bewegt, die das reale Lebensmaterial im grotesken Werk zur Parabel verallgemeinert, im absurden aber zum Selbstzweck herabmindert und mit der abstrakten Allgemeinheit von Allegorien, genauer gesagt: mit deren Leerheit anfüllt.

So manches Mal hörte ich mit rebellischen Ohren die alte Stimme von Georg Lukács diese Theorie erläutern. Meiner Erinnerung nach sträubte ich mich nicht gegen die findige Unterscheidung, sondern gegen die Grenzlinie, mit der mein Meister mit seinem konservativen Geschmack das Absurde vom Grotesken trennte. Dürrenmatt stellt in der „Alten Dame“ real und mit parabolischen Mitteln die abstoßende, totale Macht des alles in Ware umwandelnden Kapitalismus dar. Becketts zwei Vagabunden in „Warten auf Godot“ hingegen unterhalten die privilegierten Bewohner des Grandhotel Abgrund (Lukács) mit zusammenhanglosen Kauderwelschtexten, mit einem modischen Feuerwerk aus Zwecklosigkeit und Sinnlosigkeit.

Heute scheint mir, daß die beiden Parabeln zusammen den Zustand unserer Welt ausdrücken. In der Julinummer der deutschen Ausgabe von Le Monde Diplomatique lese ich: „Das reiche Fünftel der Weltbevölkerung besitzt 85 Prozent des Sozialprodukts der ganzen Welt (1965 waren es „nur“ 70 Prozent), während das arme Fünftel nur über 1,4 Prozent verfügen konnte.“ Unter solchen Umständen ist die bis über die Ohren verschuldete Dritte Welt, aber auch Osteuropa den Großmächten und in erster Linie Amerika ebenso ausgeliefert wie die Bewohner von Güllen der Milliardärin in Dürrenmatts Stück. Nach der Autorin des erwähnten Artikels, Susan George, drohte der amerikanische Diplomat John Kelly in der UN-Debatte über den Golfkrieg dem Vertreter des Jemen, der gegen den Beschluß stimmte: „Das ist für Ihr Land die teuerste Neinstimme, die Sie jemals abgegeben haben.“ Danach wurde das dem Jemen früher bereits zugesprochene Hilfsprogramm in Höhe von 70 Millionen Dollar gestrichen. Kein Wunder also, daß die dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ausgelieferten Inder und Simbabwer sich zwar gegen den Beschluß ereiferten — wie die Güllener empört sind, als die Milliardärin im Tausch gegen den wirtschaftlichen Aufschwung das Leben eines ihrer Mitbürger fordert —, dann aber auf Güllensche Art doch mit Ja stimmten.

Mit diesem Beispiel verurteile ich nicht den Krieg gegen Saddam Hussein – obgleich ich die Art, wie er geführt und beendet wurde, für unmenschlich und dumm halte —, ich möchte nur deutlich machen, daß die Wirtschaftsmächte und ihre Institutionen, die die Welt beherrschen, an der Aufrechterhaltung und Erweiterung der — absurden? grotesken? — Ungleichheiten interessiert sind und die Kraft haben, die organisierte Welt samt der Weltorganisation in den Dienst ihrer Ziele zu zwingen. Die Welt ist zu einem Güllen geworden, aus den Händen gewählter Organe gleitet die Macht in die Hände gesichtsloser und anonymer Wirtschaftsmonstren. Die, die in manchem zurückgeblieben sind, also auch wir Ungarn, können nur hoffen, daß sie durch Anpassung an die wirtschaftlichen und politischen Forderungen, die über sie hereinbrechen, dem verhängnisvollen Absturz entgehen. Aber für die überwältigende Mehrheit der Erdbewohner bietet sich für das Überleben unter den gegenwärtigen — absurden? grotesken? — Kräfteverhältnissen nur eine einzige Strategie an: auf ein Wunder zu warten.

Wir brauchen nicht zu befürchten, daß die Tataren oder Türken die Mauer einreißen, die heute unsichtbar, aber um so wirksamer die westliche Zivilisation schützt. Ihre letzten Futterrüben kauend warten in unübersehbaren Mengen die Ärmsten auf Godot, daß er ihnen eine Ladung Mohrrüben bringe, vielleicht auch tragbare Schuhe, und die Obdachlosen vor den nächtlichen Schlägertrupps bewahre. Und wenn er heute nicht kommt, dann kommt er morgen oder übermorgen, und wenn er dann immer noch nicht kommt, dann steigen sie, eine Bombe am Gürtel befestigt, in die Straßenbahn und fliegen in die Luft, an Allahs unsäglich wohlduftende Brust. Zwischen passivem Abwarten und Fanatismus nämlich besteht nur ein gradueller Unterschied: Wenn das Wunder nicht zu uns kommt, gehen wir zum Wunder.

Die ungarische Tageszeitung Népszabadság schrieb vor kurzem, zwei ehemalige britische Soldaten hätten ein Reisebüro eröffnet. Für 1.700 Pfund überließen sie ihren Geschäftspartnern Schußwaffe, Munition und eine kugelsichere Weste, so ausgerüstet könnten sie von einem vermutlich malerischen Punkt in Kroatien aus mittels Zielfernrohr Jagd auf die Flüchtlinge des jugoslawischen Kriegs machen. Gäbe es einen Dramatiker, der auf eine solche Idee zu kommen wagte und sie für die Bühne aufschriebe, dann könnten wir sein Werk nach der Kategorisierung von Georg Lukács dem Grotesken zuordnen. Das Morden als geschäftliche Transaktion auf diesem schäbigen Niveau liefert eine vernichtendere und unverfälschtere Parabel über den Güllenschen Zustand der Welt als die legale Profitgier der Rüstungsindustrie oder die im großen abgewickelten Giftgasgeschäfte und heimlichen Uranschmuggeleien. An diesem Punkt, meine ich, kann der gängige Sprachgebrauch das Absurde nicht vom Grotesken trennen, selbst wenn diese Unterscheidung ästhetisch begründet ist. Das Gewinnstreben in korrekter geschäftlicher Form trifft sich auf den kroatischen Anhöhen mit den Vergnügenswünschen derer, die nach redlicher Arbeit ausspannen wollen. Aber der Widerspruch zwischen den legalen Formen und dem tödlichen Inhalt des Geschäftes ist so widersinnig, die Absurdität, daß es zu einem solchen Zusammentreffen überhaupt kommen kann (wenngleich mörderische Rendezvous legal, öffentlich und mit tausendmal schrecklicheren Konsequenzen täglich zu Dutzenden vorkommen) so himmelschreiend, daß wir in diesem Zusammenhang mit Recht von einem Wunder sprechen können – aber nicht im Godotschen, im erlöserischen Sinn, sondern negativ. Es ist ein Wunder, das ich am ehesten einer Prosa des Satans zuschreiben würde.

Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki