"Blavatzkys Kinder" - Teil 31 (Krimi)

Teil 31

Benjamin schnappte nach der Pistole im Halfter des Soldaten.

„Du kleine Ratte“, brüllte der und versuchte Benjamins Hand zu packen. Ein Schuß löste sich und traf in den Waldboden. Auf Benjamins Gesicht brannten die Schläge des Mannes. Ein zweiter Soldat schnappte sich Diwnas.

Die Kinder wurden mit schmalen weißen Plastikbändern gefesselt und in einen Jeep geworfen. Vor dem Kinderhof wurden sie ausgeladen wie Kartoffelsäcke. Der Arzt und Schwester Elisabeth zerrten sie auf die Füße und stießen sie in das Zimmer des Wachpersonals.

„Mein Junge, du hast dir heute eine lange Nacht verdient“, sagte der Arzt.

„Und die Göre bekommt Kategorie drei“, fügte die Schwester hinzu und setzte die Injektionsnadel an. Diwnas weinte, und Benjamin fühlte sich schuldig.

* * *

Irgendwann drehte sich Robert im Halbschlaf um, und Miriam wachte auf. Mein Hintern ist tiefgefroren, dachte sie. Sie versuchte, die Beine zu strecken und stieß an die hintere Wand der Höhle. Robert knurrte und drehte sich wieder zu ihr.

„Morgen. Wetter gut. Rennen geht weiter. Wohin fliehen wir heute?“

„Rehe schießen. Lagerfeuer machen. Bohnensuppe kochen.“ Sie kniff ihn fröhlich ins Bein.

„Au. Bei dir tickt's wohl nicht richtig? Ich hasse Bohnensuppe. Schieß dein Reh allein.“ Er wurde langsam wach und grinste. „Und putz dir die Zähne, Waldschrat.“

Sie gingen hinunter zu dem kleinen Fluß, um sich Gesicht und Hals mit eiskaltem Wasser zu waschen. Sie tranken und reckten ihre steifen Rücken, ehe sie ihre Sachen in der Höhle zusammensuchten.

Sie begannen mit dem Aufstieg, ließen den kleinen Pfad, der sie bergan geführt hätte, hinter sich und schlugen sich durchs Gebüsch, so daß sie von der anderen Seite nicht zu entdecken waren.

Sie waren müde, hungrig und erschöpft. Sie hatten keine Ahnung, wo sie sich befanden. Nach Stunden schienen sie sich dem Wirkungsbereich des Lebenshofes und seiner Privatarmee entzogen zu haben, aber sie wußten nicht, wie sie diesem Wald entrinnen konnten. Kein Haus, nirgendwo Anzeichen einer Siedlung, keine Straße, kein Forsthaus.

„Und kein Scheißtelefon“, sagte Miriam.

Sie saßen auf einer klapprigen Bank und studierten verwitterte Wanderschilder.

Miriam las die Hinweise mit der Stimme eines Marktschreiers. „Ein Rundweg. In nur fünfzehn Kilometern kommen wir an einem Kloster vorbei. Oder hätten Sie lieber eine geweihte Marienquelle mit der garantiert pilgerfreundlichen, schmerzhaften Möglichkeit niederzuknien und zu bereuen, was immer Sie nicht getan, aber genossen haben?“ Sie ging um den Baumstamm herum, der die Hinweise trug. „Nicht zuletzt unser Sonderangebot: ein privates Wildgehege. Dort können Sie dem Rotwild das Futter klauen.“

„Dem Rotwild Futter klauen. Was seid ihr denn für seltsame Vögel?“ fragte eine Männerstimme. Beide fuhren herum. Man hatte sie erwischt. Wohin?

„Habe ich Sie erschreckt? Sie sehen wirklich merkwürdig aus.“

Vor ihnen stand ein Reiter. Groß, schlank, blond, Goldrandbrille, teure sandfarbene Jacke, dicker, blauer Rollkragenpullover, schwarze Reiterkappe, Reithosen, Stiefel. Er sah freundlich auf sie herab.

„Ähh, verlaufen. Gestern.“

Miriam gab wie so oft erschöpfend Auskunft. Robert beobachtete den Reiter mißtrauisch. Wo kam der plötzlich her? Das Pferd, ein Fuchs, nagte gelassen an einem Zweig. Der Reiter sprang ab, behielt aber die Zügel in der Hand.

„Sie haben sich nicht nur verlaufen. Sie haben Probleme.“

„Könnten Sie uns zeigen, wie wir aus diesem Wald herauskommen?“

Der Mann schwieg einen Moment. „Kommen Sie. Steigen Sie auf.“

„Ich hab' noch nie ...“, sagte Robert nur und stieg mit dem linken Fuß in den Steigbügel. Miriam machte es ihm nach und setzte sich hinter ihn. Der Mann führte das Pferd etwa zwei Kilometer einen kleinen Pfad entlang. Sie befanden sich am Rand eines Tals, in dem ein einziges Haus zu sehen war, auf das der Mann deutete.

„Meine Hütte. Ihr bekommt etwas zu essen, könnt duschen und telefonieren. Ich will mir Ihre Kopfwunde ansehen.“

Die Hütte war ein Blockhaus und lag auf einem größeren Waldgrundstück. Das Haus war so sorgsam plaziert, daß nur wenige der alten Bäume gefällt worden waren. Es war nur ganz aus der Nähe oder von oben zu erkennen.

Der Mann stellte das Pferd in den Stall, sattelte es ab, warf ihm etwas Heu hin, streichelte ihm über die Nüstern und verschloß die Stalltür. Er ging vor ihnen zur Haustür, schloß auf und ließ sie ein. Sie ließen ihre schlammverschmutzten Schuhe an der Garderobe, er gab ihnen Filzpantoffeln und bat sie ins Wohnzimmer. Ein großer weißer Kaminofen wärmte den Raum. Der Mann legte einige Holzscheite nach und verschloß die schmiedeeiserne Ofentür.

„Ich heiße Daniel Reuter. Da ist das Telefon. Ich mache Frühstück. Kaffee? Tee?“ Er ging in die Küche und schloß die Tür.

Miriam wählte die Nummer von Max' Hof.

„Max? Hallo!“

„Verdammt, wo seid ihr? Was ist passiert? Wir haben uns furchtbare Sorgen gemacht.“

Miriam rechnete es ihm hoch an, daß daß er nach ihrem Wohlergehen und nicht nach seinem Auto fragte.

„Max. Bitte hör jetzt genau zu.“

Sie erzählte hastig, was passiert war. In Max' Kopf drehte sich alles. Was für eine Geschichte!

Fortsetzung folgt