"Blavatzkys Kinder" - Teil 30 (Krimi)

Teil 30

Die Fliehenden näherten sich der Kante eines Steilhangs – unten ein kleiner Fluß.

Stimmen. Ihre Jäger hatten die Hecke erreicht.

Miriam und Robert sahen sich an und sprangen.

* * *

Gates, der im Wechsel mit Deger die Sitzung leitete, rief den nächsten Bericht auf. Jeder der Anwesenden wußte, daß es in Brasilien Probleme gab. Der Landeschef betrieb eine miserable Personalpolitik. Antonio Alvarez da Silva räusperte sich und zog das Tischmikrophon näher zu sich.

„Wir haben den italienischen Minister inzwischen dazu veranlaßt, seinen Verdacht zu widerrufen. Dabei haben unsere italienischen Freunde geholfen.“

Er warf einen dankbaren Blick in die Richtung des italienischen Konferenzteilnehmers. Ein italienischer Minister hatte im vergangenen Jahr ein paar Tage weltweit in allen Medien mit seiner Behauptung Furore gemacht, in Brasilien adoptierte Kinder würden in Italien getötet und ausgeschlachtet.

„Der Minister erklärte, nachdem eine parlamentarische Kommission Beweise verlangt hatte, es seien lediglich unbestätigte Gerüchte gewesen, die ihn aufgerüttelt hätten. Seine Äußerungen seien mißverstanden worden und nur seiner tiefen Besorgnis um das Wohl aller Kinder entsprungen.“ Alvarez sah beifallheischend um sich.

„Nun, unsere Gewährsleute in Italien hatten innerhalb von zehn Stunden nach seiner ersten Talkshow ein Gespräch mit dem Mann. Er hat Kinder und teure Reisewünsche. Jetzt weiß er seine Familie in Sicherheit und hat ein Konto in der Schweiz.

Gates ging das gespreizte Getue auf die Nerven.

„Wir haben im vergangenen Jahr Kinder eingekauft. Der Einzelpreis betrug zwischen einhundert Dollar, wenn wir das Kind direkt von den Eltern kauften, und viertausend Dollar, wenn wir Mittelsmänner einschalten mußten. Wir mischen uns nicht in den eigentlichen Adoptionsmarkt – die gewünschten Objekte für diese Klientel sollten nicht älter als drei Jahre sein. Unsere Ware wünschen wir uns im Alter zwischen acht und zwölf Jahren. Ein Teil der Fälle wird als Scheinadoptionen abgewickelt. Das macht den Transport in die europäischen Länder einfacher – die Organträger können lebend und mit einem regulären Ticket nach Europa geschickt werden. Sie transportieren sich gewissermaßen selbst. Außerdem erwarten sich die meisten ein Leben im Paradies. Die Kinder werden in einer der drei italienischen Privatkliniken, mit denen wir kooperieren, eingeliefert, zu einem Gesundheitscheck. Sie werden dann im Operationssaal verwertet, und direkt nebenan liegt der Käufer. Da die Vorbereitung der Papiere und der Flug Zeit in Anspruch nimmt, können unsere italienischen Partner in aller Ruhe die glücklichen Käufer benachrichtigen und ins Krankenhaus rufen. Für eine Niere berechnet unser italienischer Partner dem Käufer rund sechzig bis siebzigtausend Dollar. Wir erhalten sechzig Prozent. Die Kinder werden anschließend adoptiert. Wir erforschen noch, wie wir sie zuvor intensiver nutzen können.“

Seine Zuhörer klopften Beifall. Drei Meter tiefer fielen sie in feuchte Erde, stolperten und rutschten in das Tal. Sie rannten durch das kleine, flache Wildbachbett und gelangten auf die andere Seite. Es war zu spät, um die Böschung ganz hinaufzuklettern. Sie hörten ihre Verfolger bereits. Das Steilufer hatte tiefe Falten, und in einer fanden sie durch einen glücklichen Zufall eine Höhle, deren Eingang hinter Felsen und einem Baum versteckt lag.

Sie krochen hinein. Miriam atmete schnell. Robert keuchte.

Sie hatten unglaubliches Glück. Ihre Verfolger hatten sie aus dem Auge verloren. Miriam und Robert lagen mit angezogenen Knien in der Erdgrube. Miriam hatte Schuhe und Socken ausgezogen und irgendwie getrocknet. Die Sonnenstrahlen spielten noch eine Weile zwischen den Bäumen. Dann ging die Sonne unter.

„Du blutest an der Stirn“, stellte Robert fest. Er legte seine Hand an Miriams Gesicht. Seine Hand war warm, ihre Nase kalt.

„Wir werden hier eine ganze Weile bleiben müssen“, meinte Robert.

„Ja. Vielleicht täuschen sie uns nur.“

„Oder sie kommen wieder.“

Das letzte Licht brach ab. Der Mond war fast voll und stand so, daß sie ihre Gesichter schemenhaft erkennen konnten.

„Ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Wir sollten nicht versuchen, Max' Auto zu finden, sondern abhauen und so weit weg von dieser Gegend wie möglich laufen. Wir können auch kein Auto anhalten. Vielleicht fahren sie herum und schauen, ob sie uns zufällig finden“, sagte Robert. „Wir brauchen eine Telefonzelle. Denn sie werden irgendwann Max' Auto finden und feststellen, wem es gehört. Und dann ist die Wohngemeinschaft fällig.“

* * *

In dem Teil des Waldes, der Benjamin so sicher und menschenleer erschien, lagen die Kasernen. Benjamin sah sie nicht. Er nahm Diwnas an die Hand, und beide rannten auf die dichteste Stelle zu.

Niemand hatte die Flucht bemerkt, außer einem Hund hinter den Mauern des Lebenshofs. Er bellte. Benjamin zog das Mädchen noch schneller hinter sich her. Sie war leicht. Diwnas ließ sich ins Unterholz fallen. Sie verschnauften eine Weile und rannten dann wieder los.

Die Kinder liefen einem Soldaten, der an der Rückseite der Kaserne gegen einen Baum pinkelte, direkt in die Arme. Er griff Benjamin am Nacken.

„Lauf, Diwnas, lauf!“

Diwnas stand vor Angst starr und schrie schrill Benjamins Namen.

Fortsetzung folgt