Heilen mit Natur und Mythos

■ Ein Gespräch mit Malte Bühring, seit 1989 Professor am ersten deutschen Lehrstuhl für Naturheilkunde in Berlin, über den Erfolg, Mythen und Moral der Alternativmedizin

taz: Mehr als 70 Prozent der Deutschen haben nach einer Umfrage des Allenbach-Instituts bereits Naturheilmittel genommen. Warum ist die Alternativmedizin so beliebt?

Malte Bühring: Das ist natürlich auch so ein romantischer Traum von der Natur, von einem Urvertrauen zu ihr. Andererseits spielt ein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber der Schulmedizin und ihren aggressiveren Methoden eine Rolle. Manche Patienten meinen, daß die Naturheilkundler vielleicht die moralisch besseren seien, was ich abstreiten möchte. Wir liegen in einem allgemeinen ideologischen Trend, daher die Vorliebe für natürliche Behandlungsweisen.

Ist die alternative Gesundheitsbewegung auch ein Hort diffuser spiritueller Sehnsüchte?

Das stimmt schon. Wenn einer in feuchte Wickel eingepackt wird oder in weiße Tücher, ist das schon ein Erlebnis, und da mag sich auch Mythologisches wiederholen.

Was heißt denn Alternativmedizin?

Ich differenziere zwischen Naturheilverfahren wie physikalische Behandlungsmethoden, Ernährungstherapie und Pflanzenheilkunde, die grundsätzlich von der Schulmedizin anerkannt werden, aber nicht ausreichende Anwendung finden, weil man in andere Dinge investiert. Daneben gibt es Ansätze wie die Homöopathie und Akupunktur, die von der Schulmedizin schon aus theoretischen Überlegungen abgelehnt werden. Daß sie trotzdem wirksam sind, bezweifelt auch sie nicht, nur sie sagt, daß dort nur suggestive, psychische Wirkungen am Werk sind.

Kann die Alternativmedizin die Schulmedizin ersetzen?

Nein. Aber es gibt einen großen Bereich, wo beide gleichzeitig eingesetzt werden. Und dann gibt es Krankheiten, wo die Schulmedizin nichts anzubieten hat, zum Beispiel das chronisch infektanfällige Kind. Mit Antibiotika über längere Zeit ist es den Kindern eher schlechter gegangen. Wir versuchen mit abhärtenden Maßnahmen wie Bewegungstherapie die allgemeine Abwehrkraft zu stärken. Die Hilfe zur Selbsthilfe ist wichtig.

Ebnet die Vorstellung davon, daß jeder Patient für seinen Gesundheitszustand selbst verantwortlich ist, einer moralisierenden Kontrolle den Weg?

Ja, das kann durchaus faschistoide Züge bekommen...

...nach dem Motto, du bist selbst schuld, wenn du krank wirst...

...richtig. Und im Dritten Reich ist das ja auch mißbraucht worden. Aber was kann die Naturheilkunde dafür, daß sie pathogenetische Mechanismen aufdeckt, das spricht nicht gegen ihre Behandlungsmethoden. Daß einzelne Naturheilkundler dem Patienten Vorwürfe machen, hat mit der Naturheilkunde an sich nichts zu tun.

Wird die Bedeutung der richtigen Lebensführung nicht manchmal übertrieben?

Nein, das glaube ich nicht. Die ist sehr wichtig. Daß man den Leuten die Freude am Butteressen verdirbt, ist natürlich völlig übertrieben. Gefährlich sind Leute, die die Möglichkeiten der Schulmedizin nicht überschauen und unter Chemotherapie nur ganz schreckliche Dinge verstehen.

Welche Vorstellung von Gesundheit hat die alternative Medizin?

Den Schulmedizinern geht es um die Heilung der Menschen, und vielen Naturheilärzten geht es um das Heil der Menschheit. Da haben die Naturheilkundler einen höheren Anspruch, sie nennen es einen ganzheitlichen Anspruch, wo der körperlichen Gesundheit auch seelische Gesundheit entspricht. Das ist nur ein Ideal. Manchen Naturheilkundlern ist vielleicht vorzuwerfen, daß sie ihre Wertmaßstäbe aufdrängen.

Wird in der Alternativmedizin nicht oft die „gute“ Natur der „verderblichen“ Künstlichkeit naiv pauschalisierend gegenübergestellt?

Zum Teil ist das richtig. Immer wird es Übertreibungen geben. Wenn wir mit Mitteln aus der Natur bahandeln, haben wir die theoretische Vorstellung, daß sich der Mensch in seiner Ontogenese am besten mit natürlichen Reizen auseinandersetzt und darauf am vernünftigsten reagieren kann. In der Tat hat allein die methaphorische Bedeutung von Natur für viele Patienten schon eine große Wirkung.

Was bedeutet „Natur“?

Natur ist der Mensch und seine Umgebung in ihren physischen, aber auch in ihren metaphysischen Dimensionen. Über letzteres wissen wir noch sehr wenig. Für manchen ist es eine psychisch heilende Wirkung, wenn er sich als Teil dieser Natur erleben kann.

Wo liegen die Schwächen der Alternativmedizin?

Die Schwächen der schulmedizinisch anerkannten Naturheilverfahren liegen in ihren Grenzen: daß sie beispielsweise keine Schizophrenie behandeln können und keinen Krebs endgültig heilen können. Die Schwächen der Alternativmedizin sehe ich dort, wo es irrational wird, wo der Doktor so eine Art Gururolle einnimmt und die Würde des modernen Menschen nicht mehr gewahrt wird.

Die alternative Medizin ist noch immer in der Minderheit. Was sollte sich ändern?

Wir brauchen mehr Forschung. Doch die Unis lassen unsere Medizin in ihren Reihen nicht zu. Das ist ein ganz undemokratisches Verhalten der Hochschulen. Wenn 80 Prozent der Studenten das wollen und 70 Prozent der Bevölkerung, muß der Staat eingreifen. Interview: Anja Dilk