Sanssouci
: Nachschlag

■ Die Verteidigung der Stadt: Richard Sennett im Literaturhaus

Der Vortragssaal im Literaturhaus platzte am Montag abend aus allen Nähten. Sämtliche Sitz- und Stehplätze waren okkupiert, und Leute, deren Kleidung dies nicht unbedingt erwarten ließ, hatten sich ohne Umstände auf dem Fußboden niedergelassen. Wenn die Fans nach Abschluß der Veranstaltung aber dennoch ruhig nach Hause gingen, ohne sich gegenseitig mit ihren hier erworbenen Kenntnissen zu behelligen, dann lag es ohne Zweifel am Gast des Abends: Richard Sennett, Soziologieprofessor aus Chicago, der an der New York University lehrt.

Sein 1983 bei S. Fischer auf deutsch erschienenes Buch „Die Tyrannei der Intimität“ konnte zwar die nervenden Vertraulichkeits- und Betroffenheitsriten beim alternativen Fußvolk dieser Republik nicht nachdrücklich erschüttern, immerhin aber hat es sich mit der Zeit herumgesprochen, daß auch Chicago mehr zu bieten hat als die Erinnerung an gigantische Schlachthöfe und rauchende Colts. In seiner sehr klugen (und vor allem sehr verständlichen) Einführung sprach der Berliner Soziologe Heinz Bude über die Rezeptionsgeschichte Sennetts in Deutschland.

Im Mittelpunkt von Sennetts Forschungen steht die Stadterfahrung – von der athenischen Polis bis zur New Yorker Lower East Side. Wie geht der einzelne mit der Einsamkeit in der Moderne um? – eine, so Bude, „fast religiöse Fragestellung, die Sennett soziologisch zu beantworten sucht“. In seinem Vortrag ging Sennett dann ein auf das unüberbrückbare Spannungsverhältnis zwischen „Fleisch und Stein“ (so auch der Titel seines jüngsten Buches, das gerade im Berlin Verlag in wunderschöner Ausstattung erschien), zwischen körperlicher Erfahrung und urbaner Architektur.

Anstatt aufs neue das alte Klagelied von Entfremdung und Verflachung zu singen, beschreibt Sennett die Stadt als Schule des modernen Bewußtseins und zitiert Aristoteles: „Eine Stadt besteht aus unterschiedlichen Arten von Menschen; ähnliche Menschen bringen keine Stadt zuwege.“ Sennett ist alles andere als unkritisch gegenüber der westlichen Moderne, beklagt ihre „sinnliche Verarmung“ und sieht ihre viel gescholtene Zerfaserung und Atomisierung gerade als Chance: „Menschen, die in der Lage sind, Dissonanz und Inkohärenz in sich selbst anzuerkennen, vermögen die Welt, in der sie leben, zu verstehen, statt sie zu beherrschen.“ Und es folgt eine Selbstverständlichkeit, die man allen Authentizitäts-Aposteln ins Stammbuch schreiben möchte: „Ganzheit, Einheit, Kohärenz: dies sind die Schlüsselwörter der Macht.“ Der Körper findet sich im Stein nicht wieder, die Distanz ist zu groß, und genau das ist seine Chance.

Sennett sieht sein Schreiben als eminent politisch, und diese Selbsteinschätzung ist nicht zu hoch gegriffen. Angesichts der materialisierten Zivilisationskritik, die in Gestalt von serbischen Granaten jeden Tag auf die multikulturelle Metropole Sarajevo niedergeht, ist Richard Sennetts Verteidigung der Stadt und des städtischen Bewußtseins notwendiger denn je. Marko Martin