■ Mit dem Pazifismus droht den Grünen auch der Anspruch auf grundlegende Reformen abhanden zu kommen
: Herkömmliche Politikmuster

Geht es um die Menschen in Bosnien oder um die Zukunft der Grünen in der Bundesrepublik Deutschland? Diese Frage stellt sich unweigerlich nach der Lektüre des Fischer-Positionspapiers zum Bosnienkonflikt. Zweifelsohne hat die Bosnien-Politik der UNO in die gegenwärtige Sackgasse der Alternativen zwischen militärischem „Schutz“ der UNO-Schutzzonen oder Abzug der Blauhelme geführt. Wir erleben, daß der Frieden in Bosnien längst nicht das Ziel der europäischen Großmächte ist und daß der Bosnienkonflikt de facto zum machtpolitischen Instrument dieser Staaten verkehrt worden ist: zwischen Rußland und der Nato zum Abstecken neuer Einflußsphären und zwischen Deutschland einerseits sowie Frankreich und England andererseits um ökonomische und politische Einflußsphären in Ost- und Südosteuropa. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die UNO- Schutzzonen in Bosnien dank der Blockadepolitik der Hauptakteure keine richtigen, sondern von vornherein als halbherzige und unglaubwürdige Schutzzonen eingerichtet worden sind.

Vor diesem Hintergrund muß es als aberwitzig erscheinen, daß ausgerechnet die Grünen, wenn es nach den Vorstellungen Fischers ginge, für einen militärischen „Schutz“ von Schutzzonen eintreten sollten, die es so gar nicht gibt, für eine militärische Intervention in den Krieg plädieren sollten, die die UNO und die Nato innerlich gar nicht wollen. Tatsache ist, daß ein Einschwenken der Grünen auf die militärinterventionistische Seite in der Bosnienfrage ebensowenig dem Schutz der Menschenleben dienen kann wie der Tornadoeinsatz der Bundeswehr.

Fischers Mißtrauen und Sorge, die er der „Bundesregierung und Teilen der Konservativen“ entgegenbringt, die dabei sind, „Schritt für Schritt (...) Deutschland wieder zu einer militärisch gestützten, machtorientierten Außenpolitik zurückzuführen“, ist zu teilen. Genauso müssen auch wir mit Verbitterung feststellen, daß das Morden durch die nationalistisch gewaltbesessenen Serben und das damit verbundene menschliche Leid bei den Grünen den Boden dafür bereitete, der Partei Schritt für Schritt den letzten Rest pazifistischer Denk- und Politikansätze auszutreiben und sie den herkömmlichen Politik- und Außenpolitikstrukturen anzupassen. Mit seinem Positionspapier reißt Joschka Fischer Dämme ein, die bis dato dem Drang einer bellizistischen Parteiströmung standhielten. Fischers Positionspapier glänzt durch brilliante wie in groben Zügen zusammenhanglos aneinandergereihte Wahrheiten, Feststellungen, Fragen und Positionen, um am Ende inkonsistent den eigenen Sinneswandel zu legitimieren.

So sehr die Beschwörung von neofaschistischen Greueltaten und der Schutz des menschlichen Lebens in Bosnien als Rechtfertigung des Positionswechsels das gesamte Papier durchdringt, liefert Fischer die halbwegs logische Begründung für die Aufgabe des Gewaltfreiheitsprinzips damit, daß der „Nuklearpazifismus“ der Friedensbewegung und der Grünen zwar die richtige Antwort auf die nukleare Massenvernichtungsdrohung des Kalten Krieges gewesen sei, für die Lösung von heute dominanten „ethnischen Kriegen“ jedoch keine Lösungen anböte. Offensichtlich verkennt Fischer die Möglichkeiten pazifistischer Politikalternativen, wenn er den Pazifismus auf den „Nuklearpazifismus“ reduziert. Wenn die Weltgemeinschaft, wenn Europa mit allen seinen zivilisatorischen Potentialen bisher nicht imstande war, die Expansionsgelüste einiger völkisch- nationalistischer Oberhäuptlinge einzudämmen und ihnen das Handwerk zu legen, so liegt dies einzig und allein daran, daß der gemeinsame Wille dazu fehlt, nicht jedoch daran, daß Europa die Fähigkeiten für nichtmilitärische Lösungsstrategien fehlten. Militärische oder nichtmilitärische Strategien im Bosnienkonflikt ist die falsche Alternative, die in der politischen Diskussion jedoch leider im Vordergrund steht.

Die zentrale Aufgabe einer pazifistischen Politik im Bosnienkonflikt bestünde darin, die europäischen Hauptakteure durch Aufklärung, Kritik und Entlarvung ihres scheinheiligen Doppelspiels sowie durch Aktionen dazu zu bringen, ihre vermeintlichen Sonderinteressen zurückzustellen. Erst dann gilt es, zunächst alle längst nicht genutzten nichtmilitärischen Handlungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen. Sollte es sich herausstellen, daß der großserbische Faschismus derart nicht zu bändigen ist, so würden alle verantwortlich handelnden Pazifisten keine Sekunde zögern, um gemäß dem Notwehr- und Überlebensprinzip für einen umfassenden Schutz auch mittels Gewalt einzutreten.

Aus einer pazifistischen Betrachtung ist Fischers Feststellung, daß die friedenserhaltende Mission der UNO in Bosnien gescheitert sei, absolut unzutreffend. Richtig ist vielmehr, daß die derzeit undemokratischen UN-Strukturen, die Machtprivilegien der Großmächte im Sicherheitsrat und militaristischen Ambitionen europäischer Hauptakteure die Idee einer universal friedensstiftenden Institution, die mit einem überstaatlichen und überparteilichen Gewaltmonopol ausgestattet ist, desavouierten. Allein ein pazifistischer Politikansatz verfügt über politisch-analytische Kompetenz, die Notwendigkeit des Abbaus von einzelstaatlichen Machtpotentialen, die Zurückweisung von expansionistischen Vorstößen (wie die Osterweiterung der Nato) zugunsten von universalen schutz- und friedenssichernden Institutionen immer wieder zum politischen Thema zu machen. Anstatt diese langfristige Perspektive weiterzuentwickeln, schiebt Fischer in letzter Konsequenz seiner Argumentation dem Pazifismus die Verantwortung für das friedenspolitische Scheitern in Bosnien zu.

Der pazifistische Weg einer Neuregelung von zwischenstaatlichen und universalen Beziehungen ist gewiß unvergleichbar komplizierter, als sich auf herkömmliche politische Lösungsmuster einzulassen, er erfordert ungeheuerliche Anstrengung und Phantasie, er ist riskanter, vor allen Dingen birgt er die Gefahr, sich von der Regierungsfähigkeit zu entfernen. Er ist allerdings die unabdingbare Bedingung eines wörtlich gemeinten Reformanspruchs für sozial gerechtere, umweltfreundlichere und nachhaltige Lebenszusammenhänge. Mit der Aufgabe des Prinzips der Gewaltfreiheit würden die Grünen unwiderruflich alle politischen Maßstäbe aus der Hand geben, die notwendig sind, um die Bausteine einer Reformstrategie, die diesen Namen verdient, zu entwickeln. Mohssen Massarrat

Politikwissenschaftler an der Universität Osnabrück