Geheime Menschenversuche

US-Forscher setzten offenbar Tausende von Menschen radioaktiver Strahlung aus  ■ Von Ute Sprenger

Die 50er Jahre waren eine Zeit atomarer Euphorie: Jane Mansfield hatte einen „Atombusen“, auf den Parties servierte man „Atom Cocktails“. Es gab Pläne für atomgetriebene U-Boote und Autos, und in Ost wie West versprach das Atomzeitalter unbegrenzte Energie. Trotz aller Kriegsangst war die Atomtechnologie seinerzeit big science – gut organisiert, gesellschaftlich gebilligt und üppig finanziert.

Ungeachtet auch der Bombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki und obwohl bereits bekannt war, daß radioaktive Isotope Leukämie, Lungenkrebs und genetische Mutationen verursachen können, wurde deren Potenz in Militär- und Medizintechnik der Atommächte Frankreich, Sowjetunion und USA gleichermaßen geschätzt. Mehr noch: „In den USA wurden offenbar bis in die 70er Jahre hinein Tausende von Experimenten mit radioaktiver Strahlung an Menschen durchgeführt“, berichtete unlängst die New Yorker Philosophin Ruth Macklin auf einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Die Professorin für Bioethik gehört zu einem im vergangenen Jahr von Präsident Clinton berufenen Ausschuß, der „die Geschichte der Versuche zwischen 1944 und 1974 aufzuklären und zu beurteilen“ hat. Das vierzehnköpfige Gremium aus Strahlenexperten, Epidemiologen, Sozialwissenschaftlern, Historikern und einem Militärvertreter soll zudem einschätzen, so Macklin, „ob das gegenwärtige System der Forschung adäquat ist, um zu verhindern, daß solche Dinge wieder geschehen.“

Angesichts eines Atomkrieges, so Macklin, wollte das Militär so viel wie möglich über die Wirkungsweise radioaktiver Strahlung herausfinden. Während drei Jahrzehnten billigten deshalb US-Regierungen die grausamen Menschenexperimente. Beteiligt daran waren neben den Ministerien für Verteidigung und Energie auch die Gesundheitsbehörde, das Amt für Veteranen und die Weltraumbehörde Nasa. Die wenigsten der Opfer dieser Tests wußten wirklich, was mit ihnen geschah, denn die Versuchsreihen unterlagen von Beginn an strengster Geheimhaltung. Namenlos sind die krebskranken Patienten, die die Atomenergiekommission AEC einer Ganzkörperbestrahlung unterziehen ließ – bekannt dagegen sind die 18 KrankenhauspatientInnen, die unter anderem wegen Herzkrankheit, Zwölffingerdarmgeschwür oder Zirrhose behandelt wurden und heimlich Spritzen mit Plutonium erhielten. Man wollte wissen, wie radioaktive Isotope sich im Körper verhalten. Aus gleichem Grund wurden dem Haferbrei geistig behinderter Jugendlicher in staatlichen Einrichtungen radioaktive Substanzen beigemischt. Dokumentiert ist ferner eine Versuchsreihe aus den Jahren 1963 bis 1973 an inhaftierten Männern in den Gefängnissen von Washington und Oregon: Um zu verstehen, wie Radioaktivität sich auf das männliche Fortpflanzungssystem und die Spermienproduktion auswirkt, bestrahlte man die Hoden von 131 Gefangenen.

Die Untersuchungskommission, die sich heute auch mit der Ethik der damaligen Versuchsreihen befaßt, bezweifelt aus zwei Gründen, daß die PatientInnen über die Tests aufgeklärt wurden: Aus den wenigen Dokumenten geht nichts dergleichen hervor, und die injizierten radioaktiven Elemente wurden überdies mit Codenamen verschlüsselt, so daß möglicherweise selbst die durchführenden Ärzte nicht informiert waren.

Auch die Nachfolgeorganisation des Manhattan Project, die Atomenergiekommission AEC, die nach dem Ende des Krieges die Strahlenexperimente fortsetzte, behielt die militärische Geheimhaltung bei. Robert Procter, Gastwissenschaftler aus Philadelphia am Hamburger Institut, vermutet, daß spätere Regierungen ab Mitte der 70er Jahre dann die Sache weiterhin unter Verschluß hielten, um eine öffentliche Debatte und Schadensersatzprozesse zu verhindern.

Über einige der Test sickerten zwar schon in frühen Jahren Informationen durch. Und bereits 1986 gab ein Ausschuß des Repräsentantenhauses einen – folgenlosen – Bericht dazu heraus. Aber erst seit gut zwei Jahren ist in den USA mehr über die Hintergründe zu erfahren und so für die damaligen Opfer und ihre Verwandten endlich die Möglichkeit gegeben, über das ihnen widerfahrene Unrecht offen zu sprechen. Das hat vor allem zwei Gründe: die Wahl Bill Clintons zum Präsidenten und das Ende des Kalten Krieges, mit dem eine Reihe ehemals als geheim eingestufter Unterlagen des Energie- und anderer Ministerien freigegeben wurden. Dem gegenwärtigen Präsidenten liegt anders als seinen Vorgängern offenbar daran, Licht in die beklemmende Geschichte US-amerikanischer Strahlenexperimente zu bringen. Unterstützt wird er dabei von Hazel O'Leary, als Ministerin für Energiefragen die Chefin jener Behörde, die als Nachfolgerin des Manhattan Project und der Atomenergiekommission gilt.

Den Stein ins Rollen brachte allerdings Eileen Welsome, Reporterin einer kleinen Lokalzeitung in New Mexico, der Albuquerque Tribune. Im Herbst 1993 berichtete sie in einer Serie über die Plutoniumexperimente und veröffentlichte dabei Namen von Patienten, denen in den 40er Jahren das radioaktive Isotop gespritzt wurde. Geschockt über die Experimente, von denen sie erst aus der Presse erfuhr, veranlaßte O'Leary daraufhin die Öffnung einiger Akten. Als sich nach und nach herausstellte, daß über die Jahre eine ganze Reihe von US-Minsterien und Behörden an den Strahlenexperimenten beteiligt waren, entschloß Clinton sich schließlich, mit diesem Erbe seiner Regierung offensiv umzugehen, und berief Anfang 1994 den Untersuchungsausschuß ein. Noch vor diesem Herbst sollen die Geschichte der Strahlenexperimente aus der Hochzeit des Kalten Krieges und die Empfehlungen der Kommission vorliegen. Was damit geschieht, ob etwa noch lebende Akteure bestraft oder die Opfer entschädigt werden, liegt dann im Ermessen des US-Kongresses.